Stefanie de Velasco: Kein Teil der Welt (2019)

Stefanie de Velascos „Kein Teil der Welt“ erzählt eine fiktive Geschichte über den Ausstieg bei den Zeugen Jehovas. Obwohl de Velasco mit viel Insiderwissen aufwartet, konnte mich ihr Roman nicht vollends überzeugen.

Stefanie de Velasco Kein Teil der Welt

Die Geschichte von Esther und Sulamith

De Velasco erzählt die Geschichte der fünfzehnjährigen Mädchen Esther und Sulamith. Während Esther in die Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas hineingeboren wird, treten Sulamith und ihre schwerkranke Mutter Lidia erst nach einer beschwerlichen Flucht aus Rumänien bei. Die Mädchen werden zu besten Freundinnen, doch während Sulamith zunehmend Glaubensinhalte und Lebensweise hinterfragt, bleibt Esther zunächst unkritisch. Erst als sie Sulamith verliert und Hals über Kopf mit ihren Eltern ins gerade zugänglich gewordene Ostdeutschland übersiedelt, stellt sie ihr bisheriges Leben in Frage.

Die Geschichte wechselt zwischen zwei Zeitebenen hin und her: Die Nachwendezeit wird Esthers Kindheit in einer Kleinstadt bei Köln gegenübergestellt. Während die Zeugen Jehovas im Kölner Raum bereits etabliert sind und es zur Zentrale nach Selters nicht weit ist, agierte die Gemeinschaft in der DDR im Untergrund. Von der Verfolgung nachhaltig geprägt, müssen die dortigen „Zeugen“ erst lernen, offen zu missionieren. Esthers Eltern sind hier stark involviert und leiten Schulungen. Ständig sitzen Bekannte zu irgendwelchen Bibelkreisen im Wohnzimmer. Um Esthers Denken und Fühlen geht es in den Gesprächen mit den Eltern immer weniger. Ihre Fragen werden abgebügelt, werden als Zeichen der Aufsässigkeit gedeutet und bestraft. Da alle Antworten aus der Bibel abgeleitet werden, passen sie für Esther nicht mehr in allen Lebenssituationen, sind repetitiv und nichtssagend. Ein Prozess der Abnabelung beginnt.

Der Schock-Effekt bleibt aus

Aus Interesse habe ich selbst Publikationen der Zeugen Jehovas gelesen und kannte einige der von de Velasco zitierten Werke. Der abschreckende – vielleicht auch komische – Effekt, der durch die Zitate teils antiquiert wirkendender Ratschläge erzielt werden sollte, trat bei mir deshalb nicht ein. Ich kannte einige der Texte und hatte mich schon damals damit auseinandergesetzt. Deshalb fand ich es schade, dass die Autorin wenig Kritik an den sich ab und an selbst widersprechenden Publikationen übte. Ganz anders hatte ich das bei dem Aussteigerbericht von Misha Anouk „Goodbye, Jehova!“ erlebt. De Velascos Kritik bezieht sich eher auf die strengen Regeln innerhalb der Gemeinschaft. Die junge Esther stören die biederen Klamotten, das ewige Herumstehen mit dem „Wachturm“ vor dem Einkaufszentrum und die ständigen Zusammenkünfte, auf denen sie die immer gleichen Gesichter sieht.

In einem Interview mit dem Spiegel (S. 126, Nr. 41/5.10.2019) erklärt die Autorin, die selbst mit fünfzehn Jahren die Gemeinschaft verließ, ihren Ansatz. Für sie selbst waren es nicht vornehmlich intellektuelle Zweifel an der Lehre, es war die Stimmung innerhalb der Gemeinschaft, die sie schließlich zum Ausbruch bewegte.

Ich hatte immer riesengroße Angst, diese permanente Alarmstimmung: Das war das Schlimmste.

Die Zeugen Jehovas warten auf Harmagedon, das Ende der Welt und die Zeit des Jüngsten Gerichts, dem schließlich das ewige Paradies folgen soll. Für Kinder ist die Vorstellung vom Ende der Welt furchterregend. Wenn de Velasco schildert, welch bange Angst – und zugleich Begeisterung – herrscht, als ein Unwetter fälschlicherweise als der Beginn von Harmagedon gedeutet wird, vergeht dem Leser das Lachen.

Leider wenig subtil

„Kein Teil der Welt“ will auch ergründen, welche Faszination die Gemeinschaft der „Zeugen Jehovas“ auf interessierte Nichtmitglieder ausübt. Leider kam für mich gerade dieser Teil zu wenig subtil daher. Lidia tritt bei, weil sie offensichtlich schwer krank ist, Anschluss in Deutschland sucht und der Vater ihres Kindes sie im Stich gelassen hat. Das kleine Mädchen Cola begeistert sich für die Gemeinschaft, weil es der Verwahrlosung bei ihrem alkoholkranken Vater entkommen will. Sie findet bei Esthers Eltern zum ersten Mal Anerkennung für richtige Antworten beim Bibelquiz.

Eine andere Frau kommt zu den abendlichen Treffen, weil sie ihr in der Nachwendezeit nach dem Jobverlust wieder Struktur und Beschäftigung bieten. Esther versucht, Cola über die Schattenseite der engmaschigen sozialen Kontrolle innerhalb der Gemeinschaft aufzuklären. Doch das einsame Mädchen verweist nur darauf, dass Esther schließlich ein Dach über dem Kopf, schöne Kleider und genug zu essen habe. So schlecht könne die Gemeinschaft also gar nicht sein.

Die einzelnen Figuren wirkten auf mich durch die Beschränkung auf ihr Schicksal schematisch. Eine jede erschien als Prototyp einer Lebenssituation, die potentiell zu einem Beitritt zu einer Sekte oder Glaubensgemeinschaft führen kann.

Fazit

Für Leser, die sich bislang noch nicht mit den Zeugen Jehovas beschäftigt haben, hält „Kein Teil der Welt“ einen teils erschreckenden, fiktiv verdichteten, Erfahrungsbericht bereit. Wer die Gemeinschaft und ihre Lehren kennt und vielleicht schon Aussteigerberichte gelesen hat, läuft in Gefahr, den Roman als oberflächlich und vereinfachend zu empfinden.

Stefanie de Velasco, Kein Teil der Welt, Kiepenheuer & Witsch 2019.

Wissenstipp: Jehovas Zeugen: Lehre und Lebensweise


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