E. M. Forster: Die Maschine steht still (1909)

forster-maschineAktueller könnte diese Neuveröffentlichung gar nicht sein: Forster beschreibt das Internet der Dinge, lange, bevor Strom und fließend Wasser eine Selbstverständlichkeit waren. Nebenbei behandelt er auch die Themen Globalisierung und totale Technikabhängigkeit und man fragt sich unwillkürlich: Konnte dieser Mann hell sehen? Oder ist unser heutiges Leben schon vor hundert Jahren geradezu logische Folge damals einsetzender Entwicklungen?

Vashti sitzt in ihrem Zimmer, telefoniert mit Freunden, isst, trinkt, lässt sich ein Bad ein und klappt ihr Bett aus. Jeden Tag. Das Zimmer hat sie seit Jahren nicht verlassen; warum auch aus der Wabe treten, wenn es sonst niemand tut? Man hat ja alles, was man braucht direkt greifbar; das Zimmer zu verlassen wäre reine Zeitverschwendung. Deshalb erschüttert es sie ins Mark, als ihr Sohn sie treffen will. In persona, nicht etwa über die üblichen Kommunikationskanäle. Widerstrebend lässt sie sich auf die Reise zu seinem Zimmer ein und erfährt Ungeheuerliches: Ihr Sohn war an der Erdoberfläche. Er ist gelaufen und geklettert. Aber das Schlimmste ist: Er erkennt die allumfassende Macht der Maschine nicht an. Die Maschine, die sie alle Tag für Tag mit Nahrung, Unterhaltung und Bequemlichkeiten versorgt. Er meint gar, sie könne schon bald stillstehen. Frevelhaft!

Die Ideen, die Forster hier aufbringt, sind so fabelhaft wie erschreckend. Fabelhaft, wenn man bedenkt, dass er diese Gedanken schon vor hundert Jahren aufschrieb; erschreckend, wenn man sieht, wie nah wir dieser Dystopie mittlerweile gekommen sind. Die Bewohner von Forsters Welt sind nicht etwa dumm, sie sind nur der Auffassung, dass es sich nicht mehr lohnt, selbst Erfahrungen zu machen. Warum reisen, wenn es mittlerweile überall auf der Erde gleich aussieht, wenn man problemlos mit Bekannten am anderen Ende telefonieren kann? Warum rausgehen, wenn man dort auf Unannehmlichkeiten, zudringliche Menschen, Krankheiten und wer weiß, was noch alles stoßen kann? Warum sich mit dem ungeheuerlichen Gedanken quälen, dass sich das eigene Leben plötzlich ändern sollte. Solang die Maschine läuft, ist alles gut.

Die Maschine könnte hier viel mehr sein als nur das Internet: Es ist die Art zu leben, wie sie sich in einer Wohlstandsgesellschaft unwillkürlich zu entwickeln scheint. Eine Vergeistigung, die alles unmittelbar Erfahrbare abwertet – und durch Erfahrungen aus dritter, vierter, zehnter Hand ersetzt. Der Mensch bei Forster ist faul geworden, auch weil die Umstände es so vorgeben.

In diese leider sehr kurze Geschichte kann man viel hineinlesen. Man kann erschrecken, grübeln, staunen, sich selbst hinterfragen. Wie schade, dass Forster seine Ideen nicht weiter ausgearbeitet hat, es gäbe noch so viel mehr zu entdecken. Einen besseren Zeitpunkt für eine erneute Veröffentlichung dieses Werkes hätte man auf jeden Fall kaum finden können.

E. M. Forster, Die Maschine steht still (OT: The Machine Stops, aus dem Englischen von Gregor Runge), Hoffmann und Campe 2016, 80 S., 15€, ISBN: 978-3-455-40571-2.

Weitere Rezensionen finden sich bei El Tragalibros, Ulrike Sokul, little words, SL Leselust und Sätze und Schätze.

9 Gedanken zu „E. M. Forster: Die Maschine steht still (1909)

  1. Ich weiß nicht, ob eine weitere Ausarbeitung notwendig oder sinnvoll wäre – ich finde gerade die prägnante Kürze des Textes gut, es ist eigentlich (in meinen Augen) alles gesagt – und der Rest dem Leser überlassen.
    Mich hat diese Voraussicht gepackt: Er schildert ja wirklich die Menschheit im Zeitalter des Internets, wo man fast alles ohne menschlichen Kontakt regeln könnte…
    Danke für den Link auf meinen Beitrag, herzliche Grüße!

    1. Interessant, dass wir das so unterschiedlich sehen. Mir stellten sich beim Lesen gleich viele neue Fragen, zu denen ich gern noch mehr gelesen hätte: Wie ist die Regierung dort organisiert, sind die Mitglieder ebenso an den alles umfassenden Verteilungsprozess angeschlossen? Gibt es Menschen an der Erdoberfläche, sind sie „Rebellen“, die sich dem System bewusst widersetzen? Wie ist es genau zum Umzug der Menschen unter die Erde gekommen? Inwiefern war die Machtübernahme der Maschine von ihren Entwicklern intendiert? und so viel mehr. Zur Beantwortung bräuchte es dann allerdings wohl eher ein Werk vom Umfang der Metro-Bücher. So bleibt die (spekulative) Beantwortung wirklich mir als Leser überlassen. Herzliche Grüße zurück!

  2. Hallo Jana,

    dieses Buch (das ich inzwischen auch schon mal verschenkt habe) habe ich geradezu verschlungen.
    Wie gut, dass Hoffmann und Campe sich des Autors nach so langer Zeit nochmal angenommen hat!
    Und ja … mich würden viele Deiner „Nachgedanken“ auch berühren. Du schreibst doch so gern. Wäre das nicht eine tolle Idee, wenn du Dich hier in Deinem Blog (übrigens DER und DAS Blog!) über Deine erweiterten Vorstellungen ausfabulieren würdest?
    Eine so geniale frühe Voraussicht der Entwicklung einer heute alltäglichen Technik erinnert mich an die frühen Aussagen des Teilhard de Chardin, der sich zu einer Zeit, in der noch niemand eine Ahnung vom Internet hatte, mit der Idee eines globalen Hirns als Träger allen Wissens befasste, das er Noosphäre nannte. Nur fehlte noch die Technik dazu … die Idee war längst geboren, weil ja schon evolutionär im Menschen als Gemeinschaftswesen angelegt. Wenn erst die kritische Masse überschritten ist … (beginnen auch die Uromas von heute mit dem Twittern …) ? haa haaaa!

    Liebe Grüße, Ulrike

    1. Hallo Ulrike,
      ich bin auch erst durch die Neuauflage auf das Buch aufmerksam geworden. Kennst du die Aktion #SciFivongestern, die auf zwei Blogs betrieben wird? Da finden sich noch weitere solcher SciFi-Klassiker.
      Puh, selbst schreiben… Meine Nemesis! Rezensionen und semi-wissenschaftliche Aufsätze zu fest vorgegebenen Themen – am besten noch mit Sekundärliteratur und schön vielen Fußnoten – gehen mir einigermaßen leicht von der Hand. Ans literarische Schreiben habe ich mich schon seit Jahren nicht mehr gewagt. Da ist dann gleich der Druck da, dass es jetzt der ganz große Wurf sein muss, sprachlich geschliffen wie Genazino, mit mindestens so viel philosophischem Tiefgang wie Elif Shafak. Ich glaube, das viele Lesen erleichtert den Einstieg ins Schreiben nicht unbedingt. 😀

      Viele Grüße
      Jana

  3. Hallo Jana,
    danke für den Tipp!
    Was ich auf jeden Fall auch heute immer noch hochinteressant finde – so sehr wie damals vor 50 Jahren als Schullektüre, als ich die Tragweite der Idee noch gar nicht begriff – ist Aldous Huxleys Brave New World (Schöne neue Welt). Auch dessen Inhalt ist hochaktuell. Die Idee einer Welt von Menschen, die zu bestimmten Verwendungszwecken gezüchtet werden, ist schon skurril. Aber ist sie so unrealistisch?
    Unbedingt in die Liste der zu lesenden Bücher aufnehmen! (Habe nicht ganz auf dem Schirm, ob Du es schon dabei hast).

    LG Ulrike

    1. Hallo Ulrike,
      Huxley habe ich vor 12, 13 Jahren gelesen. Zuerst aus Interesse, später dann nochmal als Schullektüre. Hat mir beide Male gut gefallen! Fahrenheit 451 fehlt mir von den ,,großen“ Dystopien noch.
      Viele Grüße
      Jana

    1. Juhu, schön, dass es dir auch gefallen hat! Ich freue mich auch über jeden Leser, den es bekommt. Forster muss wirklich einer der hellsichtigsten Autoren seiner Zeit gewesen sein; ich musste mich auch dreimal vergewissern, dass die Geschichte wirklich so alt ist. Ich freue mich immer, wenn ein Verlag einen solchen Schatz hebt und wieder zugänglich macht.

      Du hast wirklich eine tolle Auswahl in deinem Artikel und schreibst ja auch über „Das Café der Existentialisten“; das Buch interessiert mich auch sehr. Würdest du empfehlen es im Original auf Englisch zu lesen oder wegen der Terminologie in der deutschen Übersetzung? Ich bin immer ein kleines bisschen verwirrt, wenn geistesgeschichtliche Termini, die ich vielleicht kenne, übersetzt werden und ich dann rätsle, was gemeint sein könnte.

      Ich habe vor ein paar Monaten auch Camus‘ „Der Fremde“ gelesen; aber auch so viele durchwachsene Besprechungen zu Meursault, dass ich es bisher nicht gelesen habe. Da vielleciht lieber noch etwas von Camus.

      Viele Grüße!

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