Nach der Lektüre von „Mein Herz so weiß“ des spanischen Autors Javier Marías erstaunt die Polarisierung, die dieser Roman verursacht – nicht aufgrund seiner Handlung, sondern allein wegen seiner Sprache. Das Spektrum der Kommentare reicht von „unlesbar und langweilig“ bis „brillant“.
Der Klappentext legt eine spannende, nervenaufreibende Geschichte nahe: Kurz nach ihrer Hochzeitsreise steht die junge Teresa vom Esstisch auf, geht ins Badezimmer, stellt sich vor den Spiegel und erschießt sich. Doch erzählt wird erst einmal die Geschichte der nachfolgenden Generation, die des Mittdreißigers Juan und die Erlebnisse im ersten Jahr seiner Ehe. Juan ist der Sohn der Schwester Teresas, welche ihren verwitweten Schwager heiratete. Der Autor siedelt seine Geschichte in den wohlhabenden Madrider Kreisen der frühen 90er an. Juan und seine Frau sind Konferenzdolmetscher, er reist viel; mehrere Wochen London, Genf und New York stehen auf seinem Jahresplan. Nach und nach erfährt er von dem Verlust, der seinem Vater kurz nach dessen eigener Hochzeit zuteil wurde und ist sich gar nicht so sicher, ob er mehr über die Vergangenheit erfahren will. Der Leser lernt durch Juans Augen verschiedene Personen kennen: Miriam, die kubanische Geliebte, die ihren Freund bedrängt, endlich seine kranke Frau zu töten; Berta, eine Freundin Juans in New York, die fremden Männern Videos über eine Dating-Agentur schickt; Nieves, sein gealterter Schwarm aus dem Papierwarengeschäft und immer wieder seinen Vater, der nicht zu altern und Juan als Erwachsenen nicht immer ernst zu nehmen scheint.
Der Titel „Mein Herz so weiß“ entstammt Shakespeares Macbeth und bietet mehrere Interpretationsmöglichkeiten: Bedeutet ein weißes Herz Unschuld? Oder ist es ein blasses, feiges Herz? Marías‘ Protagonist reflektiert sehr viel; seine Gedankengänge füllen Seiten; sein Innenleben ist die eigentliche Geschichte des Romans. Keine der erzählten Episoden ist unbedeutend, alles fügt sich in Juans Denken in jedem Augenblick zusammen. Der Roman lebt von den Motiven, die der Autor erschafft, wiederkehrende Worte zu unterschiedlichen Zeiten. Javier Marías lässt sich Zeit und genießt es, den Tod Teresas über 300 Seiten hinweg geheimnisumwittert zu lassen. Lieber betrachtet er die Beziehungen der Menschen zueinander, ihr Altern, ihre Hoffnungen und ihren Schmerz. Er zeichnet das Bild eines jungen modernen Paares, dem die Welt offensteht und das glücklich zwar, immer wieder von Ängsten geplagt wird. Das Band zwischen Vergangenheit und Zukunft wird ständig geknüpft, es wird stärker, je mehr Juan über seine Familie und besonders seinen Vater erfährt. Er ist ein nachdenklicher, tiefsinniger Protagonist, für den Marías Satzungetüme erschafft, die sich über eine ganze Seite ziehen.
„Mein Herz so weiß“ ist ein sehr nachdenklicher Roman mit fein ausgearbeiteten Motiven, die trotz ihrer häufigen Wiederholung nicht aufdringlich oder ermüdend wirken. Der Leser muss sich Zeit nehmen, um die Schönheit seiner Sprache zu schätzen. Wer allein um der Geschichte willen, die der Klappentext vorstellt, liest, wird enttäuscht. In dieser Hinsicht ist der Umschlag des Buches irreführend. Die oben abgebildete Ausgabe aus der Spiegel-Bibliothek ist noch mit einem aufschlussreichen Nachwort zur Einordnung des Gelesenen versehen und verliert auch ein paar Worte über den Autor. So erfährt man, dass Javier Marías sich zu seinem Anspruch bekennt, anspruchsvolle Romane schreiben zu wollen. Und das ist ihm mit dieser wunderbaren Perle wirklich gelungen.
Javier Marías, Mein Herz so weiß (OT: Corazón tan blanco), z.B. Spiegel-Verlag 2006, 384 S.
2 Gedanken zu „Javier Marías: Mein Herz so weiß (1992)“