Arion Golmakani wurde Ende der 50er Jahre im Iran geboren und erzählt heute, nach vielen Jahrzehnten seine erschütternde Kindheitsgeschichte. Er berichtet von Hunger, Kälte und davon, wie er trotz zweier Eltern wie ein Waisenkind aufwuchs. Die Geschichte gibt einen spannenden Einblick in die iranische Gesellschaft der 60er und frühen 70er Jahre.
Arion, eigentlich auf den Namen Alireza getauft, kommt bei einer Mutter zur Welt, die als 13-jähriges Dorfkind verheiratet wurde. Als sein Vater sich kurz nach seiner Geburt scheiden lässt und sich weigert, für seinen Unterhalt aufzukommen, weiß seine Mutter weder ein noch aus. Ohne Schulbildung, noch dazu in der streng konservativen Stadt Mashad gestrandet, kann sie keiner Arbeit nachgehen. Als ihr einziger Ausweg, eine neue Heirat, auftaucht und sie schnell wieder schwanger wird, ist für Alireza kein Platz mehr. Er tingelt von Pflegefamilie zu Pflegefamilie, hofft auf die Unterstützung von Verwandten und leidet trotz Hilfe doch oft Hunger und Kälte. Doch mit Hartnäckigkeit und dem unbedingten Streben nach Bildung schafft er es, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen und sich aus den Fängen der Armut zu befreien.
Alireza Golmakani lebt den American Dream, als diese Wendung im Iran vielleicht noch nicht einmal bekannt war. Durch seine große Willenskraft hebt er sich schon als Kind von seinem Umfeld ab, dass es sich, so liest man heraus, oftmals ziemlich einfach macht und sich als Opfer göttlicher Fügungen begreift. Bis zum Ende wird mir nicht klar, woher Golmakani seinen unerschütterlichen Optimismus nimmt. Selten schreibt er über die seelischen Qualen, die unweigerlich mit seiner Situation einhergegangen sein müssen; viel öfter beschreibt er Körperliches wie Hunger und Kälte. Vielleicht treten diese Gefühle nach Jahrzehnten in den Vordergrund der Erinnerung. Wie auch immer, ich habe mir auf jeder Seite ein funktionierendes Sozialsystem gewünscht.
Spannend ist, wie Golmakani in seinen detailreiche, literarisch ausgeschmückten Kindheitserinnerungen fast beiläufig auf die gesellschaftliche Phänomene wie den Einfluss der Vereinigten Staaten, die große Spanne von fanatisch-religiös bis aufgeklärt-weltlich, die Diskriminierung von Frauen und die Verfolgung der Bahai eingeht. Die verschiedenen iranischen Städte muten zu dieser Zeit fast wie unterschiedliche Länder an und die Stimmung einer jeden fängt er gekonnt ein. Großartig wäre der Abdruck von Fotografien aus dieser Zeit gewesen, wobei man nach Lektüre der Geschichte vermuten kann, dass dem Autor keinerlei Fotos seiner Kindheit vorlagen.
Ein lesenswertes – in seinem Stil sehr amerikanisches – Buch, das Toleranz und Durchhaltevermögen predigt und dabei in eine vergangene Welt entführt.
Arion Golmakani, Beraubte Wut (OT: Solacers, aus dem Amerikanischen von Tanja Selzer), LaLe Verlag 2015, 373 S., 9,50€, ISBN-10: 3981703510.
Interessant zu wissen: Die Verlegerin wurde auf das persische Eingangskapitel im Internet aufmerksam. Sie gründete ihren Verlag eigens, um Golmakanis Buch auf Deutsch publizieren zu können.