„Der Mensch ist ein Augentier. Und ich habe keine Augen.“
Zum Inhalt
Die Handlung in „Kulp und warum er zum Fall wurde“ dreht sich um den mittelalten Edgar Kulp, der bei einem Autounfall erblindet. Kurz zuvor hatte seine Frau ihn, den selbst proklamierten Schriftsteller ohne Werk, verlassen. Fortan baut sich Kulp in seinem Elternhaus in einem kleinen hessischen Dorf, das er nie verlassen hat, eine neue Existenz als blinder Autor auf. Dabei muss er sich mit seiner Familiengeschichte dem lang zurückliegenden Mord an seinem Vater auseinandersetzen.
Mein Eindruck
Die kurze Zusammenfassung oben deutet es schon an: Im Mittelpunkt von „Kulp und warum er zum Fall wurde“ steht keine dichte Romanhandlung. Ein loser Krimi-Plot umspannt die Betrachtungen zum Innenleben des Protagonisten, der sich und seine neu erworbene Blindheit sprachlich seziert. Seine Weggefährten stellen fest:
„Es scheint aber, als sei die Erblindung Ihre Rettung gewesen… entschuldigen Sie, wenn ich das so sage.“
S. 158
Kulp: ermüdendes Monologisieren
Als Leser fragt man sich, welche Last der Protagonist Kulp mit sich herumträgt und stochert lange im Nebel. Denn Kulp ist ein schwieriger Mensch, kein sympathischer Protagonist, dem man seinen Kummer abnehmen möchte. Er verliert sich über Seiten in mal mehr, mal weniger zutreffenden Betrachtungen der Welt im Allgemeinen und seiner Situation im Besonderen und gerät dabei ins Schwadronieren:
„Die Künstlichkeit des Lebens hier ist seine immer hinzutretende Bühnenhaftigkeit, dieses: immer ein wenig außer sich gehoben sein und immer etwas zu viel Erwartung und zu wenig Erfüllung. Wobei die Erwartung und das Irritiertsein über sie immer stärker ist als das Nachdenken über Erfüllungszusammenhänge.“
S. 179
Für den Leser sind diese Monologe – allein oder im Beisein anderer Figuren geführt – auf die Dauer ermüdend. Gerade zu Beginn erscheint der Protagonist Kulp als gescheiterter Künstler, der seine Unzufriedenheit mit sich selbst hinter der Maske des Intellektuellen versteckt und verbal um sich schlägt, um keine Rechenschaft über das Scheitern seiner Ambitionen ablegen zu müssen. Hinzu kommt ein Trauma aus der Zeit als junger Erwachsener als sein Vater ermordet wurde, seine Mutter kurz darauf verstarb und die Schwester das Elternhaus und ihn für immer verließ.
Nur in einigen wenigen Momenten blitzt Witz und der Keim einer Selbsterkenntnis auf. Ein Hauch von Selbstironie macht den Protagonisten für den Leser erträglich:
„Der Lebende muss Talente und Möglichkeiten nutzen, um zu Ergebnissen zu kommen. Der Tote darf darauf hoffen, dass ihm Talente und Möglichkeiten zugestanden werden, die er nicht mehr umsetzen konnte, weil der Glückspilz zu früh gestorben war.“
S. 199
Der Leser lernt auch Kulps Schwester kennen. Sie gleicht ihrem Bruder mehr, als sie sich und ihrem Ehemann eingestehen will. Ihre Gedanken und Handlungen zeugen von psychischen Verletzungen, ohne, dass man hier den Finger darauf legen könnte, worin genau sie bestehen.
Sprache
Ulrike Damms Sprache ist einnehmend. Es sind Sprache und Wortwahl, die ihre Figuren besser charakterisieren, als es jede direkte Beschreibung könnte. In Kulps Sprechverhalten drückt sich ein Habitus aus, der durch Neologismen und eine große Variabilität des Wortschatzes gekonnt übermittelt wird. Einige Dialoge sind derart ermüdend oder in Sackgassen führend, dass man erleichtert mit den Gesprächspartnern aufatmet, wenn Kulp den Schauplatz der Unterhaltung verlässt. Ulrike Damm schmiedet ein festes sprachliches Band zwischen Erzählweise und Charakter ihres Protagonisten.
Genre?
„Kulp und warum er zum Fall wurde“ ist ein bemerkenswertes und außergewöhnliches Buch. Ohne Hintergrundwissen scheint eine erste Einordnung als Kriminalroman passend. Doch dann überwiegen die psychologischen Aspekte, überwiegt das Innenleben des Protagonisten stark. Ist es die Betrachtung einer Behinderung? Auch die Familiengeschichte nimmt ihren Platz ein und die Schilderungen verschiedener Freundschaften und einer zerbrochenen Ehe beanspruchen Aufmerksamkeit. Dann ist da noch eine dysfunktionale Familie, die als Nährboden für all das Unglück, das hier geschildert wird, dient.
Läge nur der Text ohne bibliografische Angaben vor, so würde man „Kulp und warum er zum Fall wurde“ als psychologischen Roman in einem Klassiker-Kanon verorten.
Das Ende
Edgar Kulp umgibt ein Geheimnis, das nur seine Schwester kennt und dessen Enthüllung sich die beiden bis zum Schluss des Romans aufheben.
„Mein Leben ist zu klein für zwei. Es geht nicht, Marina. Der einzige Ort, den ich kenne, ist das Haus. Ich kann es nicht verlassen. Ich muss bleiben bis zum Schluss.“
S. 282
Nach mehr als 350 Seiten mit diesen beiden schwierigen – und dabei äußerst redseligen – Geschwistern kam ich mir durch die Auflösung fast betrogen vor. Sie erschien mir in Anbetracht all der Worte, die um das Geheimnis getan wurden, fast als profan.
Fazit
„Kulp und warum er zum Fall wurde“ hielt mich trotz seiner Längen und unsympathischen Figuren bis zum Ende bei der Stange. Es waren die mit dem Seziermesser bearbeiteten psychologischen Betrachtungen und die bemerkenswerte Sprache, die mich durch den Roman trugen. Doch das Buch mit seiner handlungsarmen Geschichte, dem Fehlen von inhaltlichen Fixpunkten und den sich über Seiten im Kreis drehenden Dialogen konnte mich insgesamt nicht überzeugen.
Ulrike Damm, Kulp und warum er zum Fall wurde, Drava Verlag 2021, 21€. Zur Homepage der Autorin und Künstlerin Ulrike Damm, die ihren Roman vollständig per Hand abgeschrieben und zu einer Skulptur verarbeitet hat.
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- Razon, Boris: Palladium
- Bendixen, Katharina: Ich sehe alles
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Der kurze, harsch und sperrig klingende Name scheint aber gut zum Protagonisten zu passen. 🙂
In der Tat. Ist auch ein sehr komischer Vogel dieser Kulp. Eine Verbindung wird im Buch zum lateinischen „culpa“ gezogen – ohne zu viel verraten zu wollen. 😉