[Klassiker] Knut Hamsun: Hunger (1890/2023)

Knut HamsunVon dem norwegischen Autor Knut Hamsun (1859-1952) steht nur „Segen der Erde“ auf meiner Klassikerliste. Aber der Versuchung, die Neuübersetzung von „Hunger“ auf Grundlage der Urfassung von 1890 vorzuziehen, konnte ich nicht widerstehen.

Zum Inhalt

Hamsuns namenloser Ich-Erzähler lebt Ende des 19. Jahrhunderts mehr schlecht als recht vom Verkauf seiner Texte an Osloer Tageszeitungen. „Hunger“ begleitet ihn in einer kritischen Lebensphase: Zwischenzeitlich obdachlos geworden und vom Hunger gepeinigt, versucht er seine Texte auf Parkbänken, in Kneipen oder zugigen Hausfluren fertigzustellen – und fällt dabei einem physischen und psychischen Verfall anheim.

„Ich hörte, dass ich fantasierte, hörte es, noch während ich sprach. Mein Wahnsinn war ein Delirium aus Schwäche und Erschöpfung, aber ich war nicht besinnungslos.“

S. 81

Meinung
Lesbar und unterhaltsam

Knut Hamsuns „Hunger“ in der Neuübersetzung von Ulrich Sonnenberg zeichnet sich durch seine zeitlose Sprache aus. Dass der Roman schon gut 130 Jahre auf dem Buckel hat, merkt man nur, wenn der Protagonist sich aufgrund fehlender Anzugweste als „halbnackt“ bezeichnet oder fast von einem Pferdefuhrwerk über den Haufen gefahren wird. Ansonsten könnte diese Geschichte eines hungernden Künstlers genauso gut heutzutage spielen.

Angenehm überrascht hat mich der stets durchscheinende Humor. Während man den Protagonisten als eine Figur kennenlernt, die man nicht mögen muss, lässt sich ihm phasenweise eine gewisse Selbstironie nicht absprechen. Der Humor wird hier vor allem durch die blitzschnellen Gefühlswechsel erzeugt. Auch die Tatsache, dass sich die namenslose Figur ihres Wahnwitzes häufig bewusst ist, trägt zur Unterhaltsamkeit der Geschichte bei.

„Ein Karren rollt langsam vorbei, ich sehe, dass Kartoffeln auf der Karre liegen, aber aus Wut und Halsstarrigkeit behaupte ich, es wären überhaupt keine Kartoffeln, sondern Kohlköpfe: Ich fluchte fürchterlich, es wären Kohlköpfe. Ich hörte genau, was ich sagte, und ich schwor bewusst jedes Mal wieder diese Lüge, nur um die verzweifelte Genugtuung zu empfinden, dass ich einen klaren Meineid beging.“

S. 217

Bewusstseinsstrom und literarische Moderne

Mit „Hunger“ leitet Knut Hamsun die literarische Moderne ein; seine Erzähltechnik des Bewusstseinsstroms (stream of consciousness) mit minutiösen Betrachtungen des Innenlebens seines Protagonisten wird später u. a. von Virginia Woolf und James Joyce aufgegriffen. Den Bewusstseinsstrom empfand ich als Leserin bisher als herausfordernde und eher abschreckende Erzähltechnik; durch Woolfs „Mrs Dalloway“ quälte ich mich; Joyces „Ulysses“ habe ich vorerst gleich zur Seite gelegt.

In „Hunger“ wirkt die Erzählweise jedoch frisch und wird nicht überstrapaziert. Das liegt insbesondere daran, dass Hamsuns Protagonist nicht ausgeglichen und gleichmütig durch den Roman schreitet, sondern sich die Stimmungsspirale mit Fortschreiten des Hungerverfalls immer schneller dreht. Er schwankt zwischen Größenwahn, Euphorie, Depression, Verzweiflung, Scham und Todessehnsucht.

„Ich beschimpfte mich wegen meiner Armut, gab mir Spottnamen, erfand verzweifelte Bezeichnungen, amüsante grobe Schimpfworte, mit denen ich mich selbst überschüttete.“

S. 73

Als Leser verfolgt man diese – mitunter fast humorvoll geschilderten – Wechselbäder gespannt. Der Bewusstseinsstrom stellt hier eine anders kaum zu erreichende Nähe zur Hauptfigur her. Die Extreme der beschriebenen Gefühle harmonieren mit der gewählten Erzähltechnik.

Glaubensfragen

Knut Hamsun (eigentlich Knud Pedersen) wuchs als Sohn eines Schneiders nördlich des Polarkreises auf und übernahm bald schon für seinen Onkel, der einer evangelikalen Sekte angehörte, Schreibdienste. Einen religiösen Einschlag merkt man dem Werk an: Viele Passagen sind an Bibelstellen angelehnt oder verfremden diese. Dieses Stilmittel ist bei fehlender Bibelfestigkeit sehr unaufdringlich. Durch die aufschlussreichen Anmerkungen am Ende des Buches erschließt sich einem nicht nur der Stadtplan der Osloer Innenstadt, sondern auch die zahlreichen Bibelbezüge werden offenbar.

Überhaupt ruft Hamsuns Protagonist Gott häufig an: Zuerst flehentlich und schmeichelnd, dann zornig beschimpfend. Den zugehörigen Monolog, der sich in dieser Fassung findet, strich Hamsun für spätere Ausgaben – ebenso wie als zu schlüpfrig empfundene Stellen. Schon deshalb lohnt sich die Lektüre dieser Übersetzung der Urfassung.

„Lass dir sagen, du heiliger Baal des Himmels, dich gibt es nicht, aber wenn es dich gäbe, dann würde ich dich dermaßen verfluchen, dass das Höllenfeuer deinen Himmel erzittern ließe.“

S. 159

Anders als der nach einem Mord hungrig und abgehalftert umherirrende Student Raskolnikow in Dostojewkijs Roman „Verbrechen und Strafe“ (auch „Schuld und Sühne“) hält der namenlose Ich-Erzähler bei Hamsun an der Moral fest. Keinen Diebstahl, nicht einmal eine Unterschlagung, will er sich leisten, um dem Hunger zu entgehen. Mildtätigkeit und Almosen nimmt er oft nicht an und sabotiert sich so fortwährend selbst.

„Ich vertrug kein Essen, ich war nicht so veranlagt; es war eine Besonderheit von mir, eine Eigenart.“

S. 48

Autobiografisches Hunger-Erleben und Nationalsozialismus

Dass diese Geschichte des herumirrenden und hungernden Schreibers autobiografisch inspiriert ist, konnte ich besonders an einer Stelle festmachen, bevor ich den Hinweis auf Hamsuns Biografie fand: Der Protagonist befeuchtet seine Hosenknie, damit sie dunkler und damit neuer aussehen. Kann ein Schriftsteller ein solches Detail erfinden, wenn er es nicht selbst erlebt, oder zumindest irgendwo gehört hat?

Für „Segen der Erde“ erhielt Hamsun 1920 den Literaturnobelpreis und gilt damit als einer der bedeutendsten norwegischen Schriftsteller. Sein aktives Eintreten für den Nationalsozialismus in späten Lebensjahren schmälert sein Ansehen erheblich. Im Deutschlandfunk erklärt Fabian Wolff, warum es sich trotzdem lohnt, Hamsuns Werk zu lesen. Die unbestreitbare literarische Qualität und prägende Wirkung für eine ganze Schriftstellergeneration sind nur zwei Aspekte.

Fazit

„Hunger“ von Knut Hamsun ist ein stilistisch wegweisender Roman über das Hungerleiden eines norwegischen Schriftstellers. Viel weniger ernst als das Hungern in Herta Müllers „Atemschaukel“, sympathischer – wenn auch nicht sehr – als Dostojewkijs Raskolnikow findet Nobelpreisträger Hamsun eine gute Mitte zwischen drastischen Schilderungen und fast schon humorvollen Leidensbeschreibungen. Empfehlung!


Knut Hamsun, Hunger, OT: Sult, aus dem Norwegischen von Ulrich Sonnenberg, Manesse 2023, 256 Seiten.

Weitere Meinungen zu „Hunger“ von Knut Hamsun

Zeichen und Zeiten

Literarische Abenteuer

Im Avant-Verlag erschien „Hunger“ 2019 als Graphic Novel.

7 Gedanken zu „[Klassiker] Knut Hamsun: Hunger (1890/2023)

  1. Tolle Rezension! Dass du wegen der Hose darauf gekommen bist, dass die Geschichte autobiografisch inspiriert ist, beeindruckt mich ehrlich.

    Hab’s direkt mal auf meine Wunschliste gepackt. Im Moment mag ich Klassiker.

    1. Danke dir! Ja, dieses Detail sprang mir sehr ins Auge, weil ich sofort dachte: Natürlich ergibt das Sinn, aber darauf kommt man doch nur, wenn man das einmal selbst erfahren oder zumindest irgendwo gehört/gesehen hat.
      Ich bin gespannt, wie es dir gefallen wird! Die Übersetzung der Urfassung lohnt sich auf jeden Fall; bei späteren Fassungen hat Hamsun selbst einiges herausgestrichen. Klassiker lese und bespreche ich hier auch oft – von meiner 150-Klassiker-Leseliste ist auch noch eine Menge offen.

  2. Hallo Jana,
    schön, dass Du Hamsuns Hunger rezensierst, ein so großartiges Buch.
    Dein Hinweis auf humorvolle Stellen hat mich überrascht. Aber je mehr ich darüber nachdenke, umso mehr möchte ich Dir dabei Recht geben.
    Für mich schien der ganze Roman wie ein Verzweiflungsschrei, sehr beeindruckend.
    Vielleicht hast Du Lust hier mal reinzugucken, wie ich »Hunger« sehe:
    https://mittelhaus.com/2017/01/31/knut-hamsun-hunger/
    Auf Deinem Blog werde ich mich auf jeden Fall noch weiter umsehen.

    1. Hallo Michael,

      danke für deinen Kommentar. Ich habe „Hunger“ gerade zum ersten Mal gelesen und empfand das Werk stellenweise als komisch, weil Hamsun seinen Protagonisten Gefühle stets in einer Unbedingheit erleben lässt. Er wird jedes Mal völlig von seinen Gefühlen überwältigt und dadurch, dass sich Euphorie, ja fast Größenwahn, und bodenlose Selbstzweifel einander in schneller Folge abwechseln (und die Figur sich dessen bewusst ist) wirkten diese Passagen auf mich fast humorvoll. Dadurch, dass dem Protagonisten aber immer wieder Hilfestellungen gegeben und mögliche Auswege aufgezeigt werden – die er immer als „Almosen“ abweist – erschien mir seine Situation zwar als ernst, aber nie als völlig ausweglos. Das habe ich bei anderen Romanen über den Hunger ganz anders empfunden.

  3. Wow spannend. Hatte schon in einem Lit-Podcast davon gehört, aber deine Rezension gibt mir ein eindringlicheres Bild, warum es sich lohnt hier reinzuschauen. Obwohl ich stream of consciousness nicht so wahnsinnig gern mag. Bei Mrs Dalloway fand ich das knifflig, bei Ulysses eigentlich gar nicht so schlimm – da haben mir mehr die ganzen Insider und Verweise die Lektüre sehr schwierig gestaltet. Ich habe es dann sogar mit Literaturschlüssel lesen müssen. Aber in Hari Kunzrus White Tears bspw. habe ich stream of consciousness das erste Mal als bereichernd erlebt.

    Darauf hinzuweisen, dass der Autor ein NS-Unterstützer war finde ich ist genau die richtige Umgangsweise. Cancel Culture bringt uns nicht weiter, v.A. solange seine Texte nicht polemisch sind. Aber verschweigen käme mir vor wie dulden.

    1. Jetzt bin ich fast ein bisschen traurig, dass du Ulysses schon gelesen hast und der nicht mehr für eine unserer Leserunden in Frage kommt? Ist das auf Englisch lesbar oder lohnt sich doch die (kommentierte) deutschsprachige Ausgabe?

      „White Tears“ kenne ich noch gar nicht; aber seit die Technik stream of consciousness in Hamsuns Werk so gut funktioniert hat, würde ich wieder dazu greifen und schaue es mir mal an.

      Danke für dein Feedback zu meinem Hinweis. Bei offener Unterstützung des NS fiel mir die Entscheidung für den Hinweis leicht. Bei Cancel Culture gehe ich sofort mit – ich bin auch der Meinung, man kann fast alles lesen und besprechen – man muss es nur einordnen oder den Lesenden durch weiterführende Hinweise die Chance geben, es selbst zu tun. Las etwas schwieriger empfinde ich die Entscheidung für einen Hinweis, wenn eine Diskussion noch im Fluss ist, bzw. die Faktenlage noch nicht eindeutig. Was, wenn etwa einem Autor vorgeworfen wird, misogyn zu sein, vielleicht er sich einmal öffentlich unglücklich/missverständlich/… geäußert hat, die Faktenlage aber insgesamt schwammig ist und die Quellen rar? Weise ich in der Besprechung darauf hin oder nicht? Ich will mich aber auch nicht davon freisprechen, dass mir irgendwann einmal ein aktueller Diskussionsschnipsel durchrutscht, weil ich mich doch eher auf die Qualität des Werkes als auf die Person des Autors/der Autorin konzentriert habe.

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