[Klassiker] Ferenc Molnár: Die Jungen von der Paulstraße (1906/2023)

„Die Jungen von der Paulstraße“ hatte ich mir ursprünglich zum Ungarischlernen zugelegt. Schnell musste ich aber feststellen, dass sich „A Pál utcai fiúk“ aufgrund seiner eher altertümlichen Sprache – das Jugendbuch erschien 1906 – für mich als Anfängerin nicht eignete. Also las ich das bekannte Werk des Autors Ferenc Molnár auf Deutsch.

Zum Inhalt

Die Jungen der Budapester Paulstraße treffen sich nach langen Schulstunden täglich auf einem unbebauten Grundstück, um zu spielen, Pläne zu schmieden und ihre Freundschaften zu pflegen. Große Unruhe kommt auf, als eine verfeindete Bande das Grundstück für sich beanspruchen will. Der Grund muss um jeden Preis verteidigt werden, also bereiten sich die Jungen aus der Paulstraße mit Festungen, Stöcken und Wasserbomben auf den gegnerischen Angriff vor. Der Bandenkrieg wird unter Verwendung militärischer Ränge und sogar Spionage geführt und lehrt die Jungen mit Enttäuschungen, Verrat und Trauer umzugehen.

Meinung

Überraschend militärische Anklänge

„Die Jungen aus der Paulstraße“ las sich als klassisches Jugendbuch dann auf Deutsch sehr verständlich. Überrascht war ich von dem kaum kaschierten Militarismus der Erzählung. Die Jungen führen einen Krieg gegen eine Bande, die ihnen ihren Spielplatz streitig machen will. Doch bereits im Vorfeld, also in „Friedenszeiten“ erhält jeder von ihnen einen militärischen Rang; ihre Bande ist streng autokratisch regiert, das Wort des Anführers gilt. Dieser ist zum Glück ein verhältnismäßig weiser und benevolenter Autokrat, sodass von dieser Seite kaum Gefahr droht.

Einen Gegensatz bietet der skurrile Kitt-Verein, den einige der Jungen der Bande parallel gegründet haben. Molnár stellt die hierarchische Bandenstruktur als ungleich effektiver dar als den demokratisch verfassten Verein (Zweck des Vereins ist es, Fensterkitt durch Kauen im Mund feucht zu halten und unbemerkt von den Lehrern eine möglichst große Menge aus den Fugen der Schulfenster zu kratzen). Der Kitt-Verein wirkt wie die Karikatur eines Vereins und verliert sich durch strikte Einhaltung seiner umfangreichen Statuten in einem ineffektiven, nur dem Selbstzweck dienenden Klein-Klein. Ein Seitenhieb auf erstarrte Strukturen der auslaufenden k. u. k. Monarchie?

„Weiß präsidierte noch immer mit ernster Miene, und als der kleine Blonde an ihm vorbeischoss, rief er ihm zu:
‚Haho ho, Herr Sekretär!‘ […] und schüttelte, um sein Ansehen zu steigern, mit aller Kraft die Präsidentenglocke.“

S. 89

Standesbewusstsein

Überraschend war das Standesbewusstsein, das in Molnárs Werk immer wieder durchblitzt. Der Grundstückswart wird von den Kindern, da er als Ausländer kein lupenreines Ungarisch spricht, von oben herab behandelt, was sich u. a. an den ungenierten Bestechungsversuchen zeigt.

„‚Dann wird es Zigarren in Hülle und Fülle geben…auch Geld…‘
Das wirkte.
‚Auch Geld?‘, fragte Jano.
‚Ja. Sie bekommen einen Gulden.‘
Der Gulden machte den Slowaken endgültig kirre.“

S. 88 f.

Als starker Gegensatz dazu wird das Verhör durch einen Lehrer, eine absolute Respektperson, geschildert. Die übrigen erwachsenen Randfiguren, etwa die Eltern einzelner Jungen, werden je nach ihrem gesellschaftlichen Stand, d. h. insbesondere Vermögen, Wohnort und Bediensteten, von den Jungen mal mehr mal weniger respektvoll behandelt. Auch die Erwachsenen, etwa die Dienstbotenfiguren, sprechen die etwa zehnjährigen Jungen je nach deren familiärer Herkunft überraschend respektvoll an. Hier wird deutlich, dass der Familienhintergrund im alltäglichen Umgang entscheidender war als das Lebensalter.

Typischer Jugendroman

Darüber hinaus weist „Die Jungen von der Paulstraße“ Elemente eines typischen Jugendbuches auf. Neben der verständlichen Sprache und der leicht zu folgenden Handlung werden Begebenheiten aus dem Lebensalltag der Jungen geschildert, die für jugendliche Leser leicht nachzuvollziehen sind. Der Konflikt mit der verfeindeten Bande der „Rothemden“, die Schelte durch einen Lehrer, Konflikte mit den Eltern, lange Schulstunden und ein ständiges Sich-Behaupten in freundschaftlichen Strukturen sind solche Elemente. Daneben spricht Molnár mit den Themen Verrat und Tod schwierigere Themen auf altersgerechte Weise an.

Noch zeitgemäß?

Ferenc Molnárs Buch ist ein historischer Jugendroman. Während die Handlung auch in heutigen Jugendromanen Platz finden würde, erscheinen einige Elemente wie der Umgang mit erwachsenen Figuren und das militaristische Gebaren heute aus der Zeit gefallen. Als erwachsener Leser lassen sich diese Elemente schnell ausfindig machen und einordnen; bei der Weitergabe an Kinder bietet sich eine erklärende Begleitung des Lesens an.

 

Als erwachsene Leserin bin ich mit den Figuren nicht richtig warm geworden; tatsächlich empfand ich das Gebaren aller Jungen als „zu erwachsen“, ebenso ihre Sprache, Umgangsformen und das immer wieder beschworene Ehrgefühl. Ob sich Kinder im ausgehenden 19. Jahrhundert untereinander fernab aller erwachsenen Augen tatsächlich so verhalten haben, vermag ich nicht zu sagen. Als Leserin stellte sich für mich dadurch jedoch schnelle eine Distanz zu den Figuren ein, die auch das tragische Ereignis am Ende des Buches nicht zu überbrücken vermochte.

Fazit

„Die Jungen von der Paulstraße“ ist ein historischer Jugendroman, mit einer für jugendliche Leser nachvollziehbaren Handlung. Einige Handlungs-Elemente müssen jedoch vor dem Hintergrund der Entstehungszeit des Romans Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gelesen werden, was den Roman aus Erwachsenensicht zu einer mehrschichtigen Lektüre macht.

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Ferenc Molnár, Die Jungen von der Paulstraße, OT: A Pál utcai fiúk, aus dem Ungarischen von Edmund Alzalay, Anaconda 2023, 224 Seiten.

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