Der junge Blog emerald notes überzeugt seit Bestehen mit fundierten und ausführlichen Rezensionen zu Büchern, die ich bislang auf keinem anderen Blog gesehen habe. Eine wahre Fundgrube für alle Leser, die auf der Suche nach Neuem sind. Ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei auf afrikanischer Literatur, die bislang auch hier im Wissenstagebuch keinerlei Platz gefunden hat. Völlig zu Unrecht, wie sich zeigt, denn es gibt wunderbare Werke zu entdecken. Daher freue ich mich, heute den zweiten Teil eines Gastbeitrags veröffentlichen zu können, der sich mit einem ganz besonderen und tragischen Land beschäftigt: Somalia.
Im ersten Teil meines Gastbeitrags habe ich Literatur aus Nigeria, Äthiopien und Ghana vorgestellt und in diesem Kontext auch Bezug auf Chimamanda Ngozi Adichies TED Talk zum Thema „The Danger of a Single Story“ genommen. In ihrer Rede betont sie, wie wichtig die Erzählung verschiedener Geschichten und die Beleuchtung unterschiedlicher (vor allem einheimischer) Perspektiven sind. Im heutigen zweiten Teil meines Beitrags setze ich den Fokus ausdrücklich auf Literatur aus und über Somalia. Wie die vorgestellten Bücher zeigen werden, haben es sich nicht nur einheimische Schriftsteller zur Aufgabe gemacht, die Geschichte ihres Landes zu erzählen, sondern auch Außenstehende geben in ihren Werken Einheimischen eine Stimme:
Born in the Big Rains von Fadumo Korn (im Deutschen unter dem Titel Geboren im großen Regen bei Rowohlt erschienen): Die in Somalia weitverbreitete grauenhafte Praktik der weiblichen Genitalverstümmelung rückte durch Waris Diries Autobiographie Wüstenblume in den weltweiten Fokus. Auch die Memoiren der gebürtigen Somalierin Fadumo Korn, die mittlerweile in Deutschland lebt, drehen sich um diese Thematik. Korn führte ein glückliches Leben in einer Nomadenfamilie, bis sie im Alter von acht Jahren beschnitten wurde. In Born in the Big Rains schildert sie ihr weiteres Schicksal nach diesem traumatischen Eingriff sowie ihren Kampf für Menschenrechte. Neben der Hauptthematik geht der Roman aber auch detailliert auf das Nomadenleben und die Anfänge des Bürgerkriegs ein. Eine starke und interessante Lebensgeschichte, die wachrüttelt.
The Orchard of Lost Souls von Nadifa Mohamed (im Deutschen unter dem Titel Der Garten der verlorenen Seelen bei dtv erschienen): Nach ihrem Debütroman Black Mamba Boy, in dem sie die Reise ihres Vaters durch Ost- und Nordafrika zu Papier brachte, schildert die junge somalisch-britische Autorin hier anhand des Schicksals dreier Frauen Somalias tragischen Niedergang in den Bürgerkrieg. In einer empfindsamen Sprache und mit viel Feingefühl, aber auch mit großer Eindringlichkeit, illustriert Mohamed die aufkochende Stimmung in dem Land und die erschütternden Folgen der Diktatur und des anschließenden Tumults für die Stadt und besonders die Menschen. Auch wenn dieser Roman in einem deutlich geringeren Grad historische Fakten übermittelt als manch andere der erwähnten Bücher, gelingt es Mohamed doch, das zu der Zeit herrschende Klima anschaulich zu vermitteln und vor allem auf das Schicksal von Frauen in Krisengebieten aufmerksam zu machen.
„Past Imperfect”-Trilogie (Links, Knots und Crossbones; im Deutschen unter den Titeln Links, Netze und Gekapert bei Suhrkamp erschienen) von Nuruddin Farah: Farah ist ohne Frage die literarische Stimme Somalias, er sieht sich selbst als Chronist seines Heimatlandes und schreibt seit Jahrzehnten ausschließlich über Somalia, obwohl er selbst im Exil lebt. In drei Trilogien hat er sich jeweils unterschiedlichen geschichtlichen Perioden Somalias gewidmet: Seine erste Trilogie widmet sich – wie der Titel „Variations on the Theme of an African Dictatorship“ bereits vermuten lässt – der Diktatur Siad Barres, die zweite Trilogie mit dem Titel „Blood in the Sun“ dreht sich um den Ogaden-Krieg zwischen Somalia und Äthiopien in den Jahren 1977/78. Farahs aktuellste Trilogie mit dem Titel „Past Imperfect“ spielt während des somalischen Bürgerkriegs und umfasst in etwa die Jahre und historischen Geschehnisse zwischen 1993 und 2006. In allen drei Romanen kehren Exil-Somalier nach jahrelanger Abwesenheit wieder in ihr Heimatland zurück und nehmen das kriegsgebeutelte Land aus ihrer spezifischen Perspektive als Diaspora-Somalier wahr. Farah behandelt in diesen Romanen unter anderem die Themen der misslungenen US-Intervention in den Jahren 1993-1995, Clannismus, den Aufstieg radikaler Islamisten, die Invasion Äthiopiens 2006, Terrorismus und Piraterie. Bezeichnend für Farahs Romane ist vor allem, dass er verschiedenste Gruppierungen zu Wort kommen lässt und so einen allumfassenden Einblick in die Geschichte Somalias und das Schicksal seiner Bevölkerung gibt.
The World’s Most Dangerous Place: Inside the Outlaw State of Somalia von James Fergusson: Fergusson ist Journalist und hat sich auf eine gefährliche Recherchereise nach Somalia begeben, um über die politische und soziale Lage zu berichten – herausgekommen ist dabei eine äußerst intensive und informative Reportage, die packend erzählt und geschrieben ist und sich deshalb ausgesprochen gut lesen lässt. Aufgrund der unmittelbaren Nähe zu bzw. Teilnahme des Autors an den beschriebenen Geschehnissen ist man als Leser hautnah dabei, wenn beispielsweise die Truppen der Afrikanischen Union gegen die Al-Shabaab-Milizen kämpfen, Exilsomalier von ihrem Leben in der Diaspora berichten oder wenn Fergusson in den Piratenhochburgen Somalias Nachforschungen anstellt. Trotz des sensationsheischenden Titels ist Fergussons Bericht weder voreingenommen noch dogmatisch, sondern liefert eine objektive und umfangreiche Analyse der politischen und wirtschaftlichen Situation in Somalia um 2012.
City of Thorns: Nine Lives in the World’s Largest Refugee Camp von Ben Rawlence (im Deutschen unter dem Titel Stadt der Verlorenen: Leben im größten Flüchtlingslager der Welt bei Nagel & Kimche erschienen): Streng genommen befindet sich der für dieses Buch relevante Schauplatz in Somalias Nachbarland Kenia, die Thematik ist jedoch eng mit Somalia verknüpft und abgesehen davon handelt es sich hier ursprünglich ohnehin um somalisches Gebiet. Mit Blick auf die Flüchtlingskrise und die momentane Dürre und Hungersnot in Ostafrika könnte es außerdem kaum ein aktuelleres Buch geben als Rawlences Reportage. Der britische Journalist und Menschenrechtler hat in dem weltweit größten Flüchtlingscamp, das sich in Ostkenia unweit der somalischen Grenze, jedoch mitten in der Wüste und fernab jeglicher Zivilisation befindet, über Jahre hinweg recherchiert und die Schicksale einzelner Campbewohner verfolgt. Indem er die Geschichte einiger dieser Flüchtlinge in den Fokus rückt und den Leser das dortige Leben und Geschehen durch ihre Augen sehen lässt, gibt er der Masse, die man üblicherweise aus Medienberichten kennt, ein individuelles Gesicht und eine eigene Stimme. So lernen wir Menschen kennen, die nach Ausbruch des Bürgerkriegs in Somalia nach Kenia geflüchtet sind, ihr ganzes Leben dort verbracht haben oder wegen der Hungersnot 2011 in Dadaab gelandet sind und sich nun in einem Schwebezustand befinden: Die kenianische Staatsbürgerschaft bleibt ihnen verwehrt, einer „richtigen“ Arbeit außerhalb des Camps dürfen sie nicht nachgehen, die Heimat ist wegen unterschiedlicher Konflikte (eigentlich) keine Option und nur wenige können auf Umsiedlung in westliche Länder hoffen. Wer die Geschehnisse in Ostafrika, humanitäre Krisen und Fluchtursachen besser verstehen möchte, dem sei dieses Buch auf alle Fälle empfohlen!
Ich hoffe nun, dass ich euch einen kleinen Einblick in die vielseitige Literatur aus und über Afrika liefern und vor allem eure Neugier wecken konnte – vielleicht waren ja ein oder zwei Bücher dabei, die euch interessieren und die ihr gerne lesen würdet. Falls ja, würde mich das sehr freuen und ich wünsche euch in diesem Fall schon einmal viel Freude beim Lesen!
Den „Garten der verlorenen Seelen“ habe ich mit großen Interesse gelesen. Danke für die anderen Tipps. Ich lese schon Bücher aus Afrika und Nuruddin Farah ist mir auch ein Begriff, gelesen habe ich allerdings noch nichts von ihm. Ich denke, das muss ich ändern. Viele Grüße!
Auf jeden Fall; wie schön, dass dir eines der vorgestellten Bücher gut gefallen hat. Viele Grüße!
Die „Stadt der Verlorenen“ ist ein sehr empfehlenswertes Buch über das Leben in einem Flüchtlingslager – und auch über die – manchmal verzweifelte – Arbeit der Entwicklungsorganisationen und die – immer wieder verheerenden – politischen Einflüsse. Nach der Lektüre ist auch der Blick auf andere Flüchtlingslager, ich denke an die Lager, in denen viele syrische Flüchtlinge ausharren müssen, ein anderer. – Und die anderen hier vorgestellten Bücher können ja wirklich helfen, sich Afrika über seine Schriftsteller und ihre Geschichten zu nähern. Viele Grüße, Claudia
Ich denke auch, dass die Literatur – natürlich gerade für uns (Viel-)Leser – ein toller Weg ist, sich Afrika zu nähern. Es ist ein viel tieferer Einstieg, als die zehn Sekunden Schreckensbilder abends in der Tagesschau – und dazu auch noch mit afrikanischer Stimme erzählt. Schön, dass du „Stadt der Verlorenen“ ebenfalls empfehlenswert findest. Viele Grüße, Jana