[Sachbuch] Ewald Frie: Ein Hof und elf Geschwister (2023)

Ein Hof und elf GeschwisterIn dem schmalen Sachbuch „Ein Hof und elf Geschwister“ erzählt der Historiker und Professor für Neuere Geschichte Ewald Frie von seiner Herkunft aus einer großbäuerlichen Familie. Neben historischen Quellen wertet er Interviews mit seinen Geschwistern aus und zeichnet so das Bild einer heute verschwundenen bäuerlichen Lebenswelt in Westfalen.

Inhalt

In seinem in fünf Abschnitte gegliederten Werk beschreibt Ewald Frie die bäuerliche Welt des 20. Jahrhunderts und erklärt die Strukturen der abseits liegenden Bauernhöfe seines Heimatortes im Gegensatz zur dörflichen Gemeinschaft. Dorf und Hof bilden hierbei zwei getrennte Lebenswelten. Frie beschreibt ein den Landwirten eigenes Selbstbewusstsein und einen Stolz, der sich insbesondere aus der Beschäftigung von Knechten und Mägden, später „Eleven“ und den Erfolgen bei Zuchtschauen zeigt. Dabei greift er auf die Erinnerungen seiner Geschwister zurück und erzählt von der Lebenswelt seines Vaters und seiner Mutter, beleuchtet die Kindheit im bäuerlichen Kontext und geht auf Themen wie Bildung, Katholizismus und Feiertage ein.

Frie betrachtet die Schwierigkeit, sich als Historiker möglichst objektiv und dabei empathisch mit seiner eigenen Familiengeschichte auseinanderzusetzen. Die geschilderten Ereignisse entstammen seinem oder dem Gedächtnis seiner Geschwister, deren Namen er verfremdet. Weitere Abschnitte behandeln das Wirken seiner Mutter und seines Vaters und die unterschiedlichen Lebenswege, die seine Geschwister einschlagen. Der älteste Bruder wird 1944 geboren, die jüngste Schwester 1969.

Meinung

Um den Untergang einer ganzen Lebenswelt rund um knochenharte Arbeit und bäuerlichen Stolz zu schildern, erscheinen weniger als 200 Seiten als kurz. Ewald Frie greift jedoch geschickt einige wenige lebensnahe Aspekte aus dem Kernbereich des bäuerlichen Lebens heraus. So entsteht mit wenigen Strichen ein anschauliches Bild.

„Es gibt nicht die eine Entscheidung, die uns vom Früher trennt.“

Der weibliche Blick

Dabei sticht positiv heraus, dass Frie deutlich auf die in den 50er, 60er und 70er Jahren herrschenden Unterschiede in den Bildungsmöglichkeiten für Männer und Frauen eingeht. Anders als viele Sachbücher zu historischen Themen blendet dieser Autor die Lebenswelt der Frauen nicht aus und zeigt die Erwartungen auf, die an seine Schwestern herangetragen wurden. Er stellt heraus, dass gerade die Bildungsangebote des Bistums Münster seinen Schwestern die Möglichkeit boten, sich (ehrenamtlich) zu engagieren und in diesem Rahmen Reisen in entferntere Orte zu unternehmen. Die Mutter spielt bei der Förderung seiner Schwestern eine entscheidende Rolle.

Jedes Kind wird in eine andere Familie hineingeboren

Besonders gut gelingt es Frie, den stetigen Wandel der Familie aufzuzeigen. Was wohl jede/r von zu Hause kennt – die jüngeren Geschwister kommen früher in den Genuss von Freiheiten, die die älteren ausgehandelt haben – multipliziert sich bei elf Kindern. So beschreibt Ewald Frie eindrücklich, dass Erwartungen und Verbote sich im Laufe der Geschwisterfolge wandeln und ehemalige Tabus wie die Mitgliedschaft im Sportverein (nicht standesgemäß für Landwirte) plötzlich für die jüngeren Geschwister legitime Freizeitbeschäftigungen wurden.

Die Individualität der Geschwister ist ein Punkt, der in „Ein Hof und elf Geschwister“ sehr deutlich wird. Ewald Frie beschreibt nicht die bäuerliche Großfamilie im katholisch geprägten Münsterland, sondern zeigt anhand der verschiedenen Lebenswege seiner Geschwister auf, welche völlig unterschiedlichen Möglichkeiten sich in den 1950er bis 1970er Jahren boten: Vom Hoferben und katholischen Internat auf dem Wege zum Apotheker und zur Erzieherin.

Persönliche Prägung

Die persönliche Prägung von „Ein Hof und elf Geschwister“ ist bemerkenswert. Wie auch sonstige Sachbücher zu historischen Themen bemüht sich Ewald Frie um Objektivität und analytische Schärfe, geht dabei aber gleichzeitig auf sehr menschliche Fragen, die andernorts ausgespart werden, ein: Was war der Hintergrund seiner Eltern, so viele Kinder zu bekommen? Wie standen die älteren Geschwister zu den immer neuen Kindern? Welche Erfahrungen machten die älteren Geschwister, die die jüngeren nicht mehr teilten? Ewald Frie verbindet souverän historische und soziologische Analyse mit warmer Familienerzählung.

Bildungsaufstieg

Als besonders spannend empfand ich – vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen mit Landleben, Großfamilie und Katholizismus – dass die Kinder der Familie Frie durch die Nähe zu Gymnasien und Internaten fast ausnahmslos einen Bildungsaufstieg, der auch die weiblichen Mitglieder der Familie miteinschließt, erreichten. Die Schwestern waren insoweit eben nicht von vorneherein auf die Rolle als Ehefrau und Mutter festgelegt. Dies hängt möglicherweise auch mit dem geschilderten Stolz auf das Eigentum und die Lebensweise als Großbauer zusammen. Die Welt der Kleinbauern und Pächter wird insoweit ausgespart. Auch die liberale Gesinnung der Mutter, die den Töchtern bei Bildungsstreben und Partnersuche freie Hand lässt, spielt eine wichtige Rolle.

„Ich kann ganz viele Dinge nicht mehr, die mein Vater konnte: Vererbungsqualitäten von Bullen an deren äußerer Gestalt ablesen, Ferkel mit dem Taschenmesser kastrieren, fließend Plattdeutsch reden, Besen binden, das Wetter aus dem Zug der Wolken und der Farbe des Sonnenuntergangs vorhersagen. Bin ich ein Aufsteiger?“

Abschied und Aufbruch

Anders als der Titelzusatz „Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben“ vermuten lässt, klingt insgesamt wenig Wehmut in Verbindung mit dem bäuerlichen Leben Mitte/Ende des 20. Jahrhunderts durch. Neuerungen werden stets mit einer Portion Pragmatismus angepackt und man wusste Erleichterungen der harten körperlichen Arbeit zu schätzen.

Dies deckt sich mit meinen persönlichen Erfahrungen; ältere Frauen in meiner Familie kämen etwa nie auf die Idee, plötzlich wieder ihre eigene Kleidung zu nähen oder ihr Backpulver selbst herzustellen. Die Do-it-yourself-Trends gehen an meiner dörflichen Heimat vorbei, weil gerade den Frauen dort noch die harte Arbeit vor Augen steht, die die Haushalts- und Hofführung bis vor einigen Jahrzehnten erforderte.

Fazit

„Ein Hof und elf Geschwister“ erinnert auf einfühlsame Art an eine Zeit, die Eltern und Großeltern noch hautnah miterlebt haben. Ewald Frie beschreibt mit der Genauigkeit eines Historikers und dem persönlichen Blick eines Zeitzeugen eine Lebensweise, die leise mit dem Einzug moderner Gerätschaften, gesellschaftlicher Mobilität und Globalisierung verschwand. Das Buch ist für den Sachbuchpreis 2023 nominiert.


Ewald Frie, Ein Hof und elf Geschwister. Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben, C. H. Beck 2023, 191 S., 23 EUR.

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