[Roman] Sylvia Frank: Nur einmal mit den Vögeln ziehn (2022)

Nur einmal mit den Vögeln ziehn

Während die quirlige Siv amerikanischen Jazz liebt und Saxophon spielt, beobachtet ihre Freundin Anna Maria das Leben lieber durch die Kameralinse. Jens verschreibt sich dem Bodybuilding und Ivo erst dem Theologiestudium und dann dem Hanfanbau. Aki steht mit ihrer alkoholkranken Mutter und den beiden jungen Geschwistern zunächst allein auf weiter Flur und findet für einige Zeit in der ostdeutschen Punk-Szene Halt. Unter dem Pseudonym „Sylvia Frank“ schreibt das Autorenduo Sylvia Vandermeer und Frank Meierewert aus den Blickwinkeln von fünf Jugendlichen in völlig unterschiedlichen Lebenssituationen über den Alltag in den letzten dreizehn Jahren der DDR.

Meinung

„Nur einmal mit den Vögeln ziehn“ ist als Liedzeile der Ostband „Silly“ passend gewählt für die Jugendlichen, die zwischen 1977 und 1990 innerhalb der eng gesteckten Grenzen von Thälmannpionieren und NVA-Wehrdienst jeder auf seine eigene Weise versuchen, ihr Glück zu finden. Die Startbedingungen sind dabei genauso unterschiedlich wie im „Westen“: Die Eltern Zahnärzte oder Alkoholiker, die Kindheit behütet oder von Unsicherheit und Missbrauch geprägt. Die Ausgangsbedingungen sind entscheidend für das weitere Leben und nur selten verändern schicksalhafte Ereignisse einen vorgezeichneten Weg völlig.

Figuren und Perspektiven

Nachdem man in den ersten Kapiteln Zeit hat, die vielen Haupt- und Nebenfiguren zu sortieren, freut man sich im weiteren Verlauf, durch Randbemerkungen immer wieder Verbindungen zwischen ihnen zu entdecken. Die vielen Perspektivwechsel gelingen insbesondere wegen der konsequenten Aufteilung auf jeweils eigene Kapitel gut. Schnell gewinnen die unterschiedlichen Hauptfiguren an Kontur, bis sie schließlich auf dem Höhepunkt der Geschichte in der Mitte des Romans (vom Mauerfall mal abgesehen) auf einer Gartenparty als unverwechselbare Individuen zusammentreffen.

Den einen Alltag gab es nicht

In „Nur einmal mit den Vögeln ziehn“ sprechen Sylvia Frank völlig unterschiedliche Aspekte des Alltagslebens in der DDR an. Durch viele Mosaiksteine entsteht dabei das Gesamtbild „Lebenswirklichkeit in der DDR“. Die berüchtigten Jugendwerkhöfe und Gefängnisse mit ihrer psychischen und physischen Gewalt, die Punk-Szene, kirchliche Strukturen, Theater, Jazz, NVA, Bodybuilding, die Kneipenszene, Hanfplantagen und ein Bhagwan-Ashram im Leipziger Osten – die Stärke des Romans liegt in dem Zusammenfügen eines runden Bildes aus vielen einzelnen Puzzleteilen.

Sprache

Stellenweise merkt man der Sprache des Romans an, dass zwei Schreibende am Werk waren. Oft wird der Jugendlichkeit der Figuren durch die Verwendung von Slang-Wörtern Rechnung getragen; an einigen Stellen wirkt die Sprache dagegen zu gehoben. So werden Preise „aufgerufen“, die Oma „erhält“ noch Geld zurück und Eintrittsgelder werden „benötigt“ (Beispiele von S. 86/87). So denkt bspw. eine Figur im Jugendweihe-/Konfirmationsalter in eher anachronistisch wirkenden Wendungen über ihre Kleiderwahl nach:

„Sie dachte an die Kleider, die ihr in den letzten Wochen von allen Seiten vorgeschlagen worden waren und die jeder beachtenswerten Attraktivität entbehrten. Ihre Geduld war bald erschöpft. Sie verweigerte sich den unpersönlichen Lösungen aus der Jugendmode genauso wie dem kargen Angebot in der Damenabteilung des Konsument Kaufhauses.“

S. 58

Damit das Geschriebene auch westdeutsch sozialisierte Leserinnen und Leser erreicht, werden Abkürzungen und verschwundene sozialistische Organisationen im Text erklärt oder dankenswerter Weise im Anhang aufgelistet. Stellenweise traut der Roman dem Leser aber zu wenig Eigeninitiative beim Googlen zu und pflegt eine Art Overexplaining, das beiläufig wirken soll, an einigen Stellen jedoch hervorsticht.

„Für den Urlaub am Balaton hatte sie sich Werke des Autors Sándor Márai in der privaten Bibliothek von Olav Wilde ausgeliehen. Márai war einer der bedeutendsten ungarischen Lyriker, Schriftsteller und Dramatiker des zwanzigsten Jahrhunderts und seine Werke fesselten sie auf ganz besondere Weise.“

S. 83

Sex, Drugs and Rock’n’Roll

Eine „Eigenheit“, die ich bei der Lektüre der letzten paar „DDR-Romane“ (ein Label, über das sich natürlich streiten lässt) bemerkt habe, war die im Vergleich zu den Romanen westdeutscher Autorinnen und Autoren herausstechende Körperlichkeit. Im Schnitt sind die Figuren häufiger nackt und haben mehr (oder überhaupt) Sex. Während die Figuren etwa bei Dörte Hansen in „Zur See“ á la Effi Briest schamhaft in den Dünen verschwinden und man sich als Leser alles Weitere denken muss (hier allerdings nicht im einvernehmlichen Kontext), vergnügen sich die Figuren in den DDR-Romanen in den französischen Dünen (Mario Schneider „Die Paradiese von gestern“) bzw. in „Nur einmal mit den Vögeln ziehn“ am Ostseestrand weniger verschüchtert.

Die Beschreibungen im Roman zeichnen sich dann auch durch eine starke Körperlichkeit aus. Es gibt unzählige Stellen, die die Statur, Frisur und Kleidung der Figuren beschreiben oder in denen Figuren Intimitäten austauschen.

„Jens saß mit nacktem Oberkörper auf der Fensterbank und nippte an einem Kaffee. Neuerdings trug er die Haare länger. Die dunkelblonden Locken fielen bis auf die Schultern hinab und umrahmten ein hübsches Gesicht, in dem blaue Augen und ein sinnlicher Mund das Auffälligste waren.“

S. 90

Dass Nacktheit, Sex und Körperlichkeit als Identifikationsmerkmal des modernen DDR-Romans dienen, ist natürlich augenzwinkernd gemeint, war in der vergleichenden Zusammenschau meiner letzten Lektüren aber ungewöhnlich auffällig (Ob das jetzt für oder gegen meine Buchauswahl spricht?).

Ausgewogenheit

Besonders gut gelingt Sylvia Frank eine ausgewogene Betrachtung, die weder in Richtung Ostalgie noch Abrechnung abdriftet. Dafür ist der im Roman dargestellte Alltag zu bunt, zu vielfältig. Ganz kurz droht dies nach der im Roman geschilderten Wende zu kippen; hier werden die Figuren als „Ossis“ doch ziemlich oft von den westdeutschen Nebenfiguren übers Ohr gehauen. Ein Umschwung der Erzählung ins Bittere geschieht aber nicht. Hierfür sorgt insbesondere die Geschichte von Anna Maria, die sich schnell mit den neuen Gegebenheiten arrangiert und einen schon zu Beginn des Romans geäußerten Reisetraum nach Paris verfolgt.

Fazit

„Nur einmal mit den Vögeln ziehn“ des Autorenduos Sylvia Frank ist ein buntes, ausgewogenes Perspektiven-Mosaik, das dem Leser verständlich und empathisch dreizehn Jahre DDR-Alltag fünfer völlig unterschiedlicher jugendlicher Protagonisten zeigt.


Sylvia Frank, „Nur einmal mit den Vögeln ziehn“, Mirabilis Verlag 2022, 360 S.

Mehr Meinungen zu „Nur einmal mit den Vögeln ziehn“

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Dr. Yvonne C. Schauch

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