Nein, nein, nein. Ich bin schon mit Skepsis an dieses Buch herangegangen. Zuerst musste natürlich „Wer die Nachtigall stört“ gelesen werden. Danach definitiv: Nein.
Scout kehrt nach einigen Jahren in New York für einen Sommer nach Maycomb zurück. Mitte zwanzig, erscheint ihr die Stadt kleiner und enger als je zuvor. Ihr Bruder Jem ist tot, doch sie freut sich auf ihren Vater Atticus und ihren vielleicht-bald-Verlobten-man-wird-sehen Henry. Als sie miterleben muss, wie beide in einem sogenannten Bürgerrat den hetzerischen rassistischen Ausschweifungen eines geladenen Redners lauschen, will sie empört wieder abreisen.
Dieses wiederentdeckte und von der Autorin nicht zur Veröffentlichung bestimmte Werk fällt qualitativ gegenüber „Wer die Nachtigall stört“ stark ab. Zu unausgereift ist die Geschichte, zu wenig plastisch die Charaktere, zu unausgegoren die Auflösung am Schluss. Die Sprache ist lange nicht so ausgefeilt und Figuren, denen in der „Nachtigall“ zum Glück eine viel größere Rolle zugestanden wird – Jem, Calpurnia! – kommen hier nur am Rande vor. Scout wirkt als junge Frau etwas aus ihrer Heimatumgebung gefallen, zu schnoddrig ist ihr Ton, zu schamlos ihre Bemerkungen; ihre detaillierte Darstellung als Kind in der „Nachtigall“ ist um einiges glaubwürdiger geraten.
„Gehe hin, stelle einen Wächter“, der Titel einem Psalm entlehnt, ist deutlich als Sittenbild des Südens angelegt. Die Umsetzung ist allerdings aufdringlicher und weniger differenziert als in der „Nachtigall“. Man kommt gar nicht umhin, beide Werke zu vergleichen – bei diesem Vergleich zieht „Gehe hin“ leider deutlich den Kürzeren. Auch die kommentarlose Veröffentlichung ist schade. So ein Jahrhundertfund hätte schon ein ausführliches Nachwort verdient.
Trotz allem war es interessant, die liebgewonnenen Figuren einmal aus einer anderen Perspektive zu betrachten; zu erfahren, wie anders die Autorin das Thema ursprünglich angehen wollte. Obwohl mir das Buch nicht gefallen hat, schmälert es den Ruhm der Autorin nicht. Es zeigt auf, welche Entwicklungen eine erstmals erdachte Geschichte nehmen kann und wie viel Feinarbeit nötig ist, bis man einen Pulitzer-würdigen Roman vorlegt. „Wer die Nachtigall stört“ strahlt nach der Veröffentlichung dieses Manuskriptes noch heller.
Weitere Besprechungen finden sich u. a. bei Sätze und Schätze, minoherba und Papiergeflüster.
Harper Lee; Gehe hin, stelle einen Wächter (OT: Go, set a watchman, aus dem Amerikanischen von Ulrike Wasel, Klaus Timmermann); 320 S., 10 €, DVA 2016; ISBN-10: 3328100180.
Danke für den Link! Ich bin da so zwiegespalten – einerseits ist es, wie Du schreibst: Man kann an so ursprünglich verworfenen Manuskripten die Entwicklung eines Autoren beobachten. Andererseits meine ich: Wenn der Text vom Schöpfer bewusst schließlich unter Verschluss gehalten wurde, ist es doch eine sehr fragwürdige Praxis der Verlage, diesen dann doch zu veröffentlichen … ich habe gerade wieder so ein Beispiel auf dem Büchertisch. Nun ja…
Deinen Schlussfolgerungen stimme ich zu: Ich fand das Buch auch sehr unausgegoren und unausgereift. Herzliche Grüße, Birgit
Doch, auf jeden Fall veröffentlichen 🙂 Bestes Beispiel ist Kafka, der all seine Texte vernichtet sehen wollte. Aber dann bitteschön, wie hier ja auch gefordert, mit ausführlichem Kommentar! Liebe Grüße!
Oh ja, davon habe ich auch zuletzt im Zusammenhang mit Vladimir Nabokov gelesen: Da wurde es als ,,künstlerischer Selbstmord“ bezeichnet. Hoffen wir, dass die nächste Auflage mit Kommentar versehen wird. Viele Grüße!
Ich empfand das Spannungsverhältnis hier als besonders groß, weil es nur ein anderes Werk gibt, mit dem man ,,Gehe hin“ vergleichen kann. Hätte Lee noch eine Reihe mittelmäßiger Romane geschrieben, würde sich bestimmt niemand sonderlich um die Veröffentlichung scheren… Welches geheimnisvolle Exemplar wartet denn auf deinem Büchertisch? Viele liebe Grüße, Jana
Liebe Jana,
ein Detektivroman von Jack London, den er selbst abgebrochen hatte und in der Schublade verschwinden ließ. Hier ging man noch einen Schritt weiter: Jahrzehnte später schrieb ein Autor den Roman fertig … naja, mehr dazu demnächst bei mir. Herzliche Grüße, Birgit
Manchmal ist es von Vorteil, das als schlechter bewertete Buch zuerst zu lesen. Mir hat es sehr gut gefallen. Gut vor allem die Tatsache, dass Scout von Vater und Verlobtem enttäuscht ist, die durch ihre Mängel einfach vielschichtigere Persönlichkeiten sind. Das Ganze erscheint mir als viel realistischer als die heile Familienwelt von „Wer die Nachtigall stört“. 🙂
Und ich dachte mir: Erstmal das lesen, durch das sie so berühmt geworden ist, um die richtige ,,Fallhöhe“ zu haben ;-). Hier kam mir der Vater, Atticus, allerdings auch überzeichnet vor, unfehlbar und darin schon unmenschlich. Danach war der Aufprall bei ,,Gehe hin“ natürlich hart.