[Leserunde] Jules Verne: 20.000 Meilen unter dem Meer (1869–1870)

20000 Meilen unter dem Meer

Die Twitter-Leserunden sind mittlerweile eine liebgewonnene Institution in meinem Leseleben. Oft entspinnen sich interessante Diskussionen und immer hat jemand einen Gedanken, geheimes Wissen oder einen hilfreichen Link, der die Leserunde voranbringt. Dieses Mal haben sich Matthias alias @_quoth_, Ariane von Nadelnerd, Christin alias Kaisu, Steffi von Miss Booleana und ich uns zusammengetan, um den Jules-Verne-Klassiker „20.000 Meilen unter dem Meer“ unter dem Hashtag #AufDerNautilus zu lesen.

Das passiert „20.000 Meilen unter dem Meer“

In den Jahren 1866 und 1867 häufen sich auf allen Weltmeeren rätselhafte Schiffsunglücke. Ein riesenhaftes Seetier soll Schiffe angreifen und versenken. Der französische Professor Pierre Aronnax will das Geheimnis lüften und begleitet gemeinsam mit seinem Diener und Assistenten Conseil eine amerikanische Mission, deren Ziel es ist, das Ungeheuer zur Strecke zu bringen.

Der Versuch misslingt und die Protagonisten gehen über Bord. Gemeinsam mit dem kanadischen Harpunier Ned Land stranden sie auf dem Rücken des Untiers, das sich bei näherem Hinsehen als Unterseeboot entpuppt. Sie werden vom Kapitän Nemo (lat. für „Niemand“) als Gefangene aufgenommen und entdecken gemeinsam mit dem rätselhaften Mann die Wunder der Unterwasserwelt. Vordergründig genießen sie alle Freiheiten – doch gehen lassen will Nemo sie nicht.

Im Dschungel der Ausgaben

In unser Leserunde las jeder eine andere Ausgabe von „20.000 Meilen unter dem Meer“. Anfangs dachte ich, meine einbändige Ausgabe aus dem volt media Verlag sei gekürzt, weil die Diogenes-Ausgabe von Steffi wie das Original zwei Bände umfasste. Das scheint im Nachhinein nicht der Fall gewesen zu sein, denn alle wichtigen Ereignisse kamen auch in meiner Ausgabe vor.

Auch die Übersetzungen unterschieden sich stark: In einigen wurde konsequent gegen die grammatisch weibliche Form von Schiffsnamen angeschrieben, sodass aus „die Nautilus“ plötzlich „der Nautilus“ wurde. Auch die wissenschaftlichen Einschübe Jules Vernes, in denen über allerhand chemische Stoffe und Gesteinsarten philosophiert wird, waren teils völlig unterschiedlich übersetzt. Dass eine Ausgabe besonders zu empfehlen sei, wurde trotz der Vielfalt nicht deutlich. Die Ausgabe aus dem Diogenes Verlag enthält jedenfalls ein Nachwort, das ich mir für meine Ausgabe auch gewünscht hätte. Denn im Nachhinein hatte ich das Bedürfnis, vieles noch einmal nachzulesen.

Kritik
Ein stilprägendes Werk

„20.000 Meilen unter dem Meer“ ist – wie viele andere Bücher von Jules Verne – absolut prägend für die Fantasy- und Science-Fiction-Romane, die danach geschrieben wurden. Er greift hier das Seemannsgarn von Jahrhunderten auf: Riesenkraken, Atlantis und versunkene Schätze. Dazu der geheimnisvolle Kapitän Nemo, der sich – unermesslich reich und gelehrt – von der Welt abgewandt hat und sein Vergnügen darin findet, Wissen anzuhäufen und Schiffe zu zerstören.

Viel Handlung, wenig Figurentiefe

Aus heutiger Sicht lässt sich an Jules Vernes‘ Werk einiges kritisieren: Die Abenteuer der Figuren geschehen in so rascher Folge, dass sich eines ans andere zu reihen scheint. Einen wirklichen Einfluss auf die Geschichte haben die fantastischen Begebenheiten aber nicht. Vielmehr sind sie in sich abgeschlossen und schnell abgetan. Oh, da ist Atlantis? Schön! Weiter im Text! Eine Ausnahme bildet die unfreiwillige Fahrt im Eiskanal, die die Figuren nachhaltig beeindruckt hat und für deren weitere Handlungen von Bedeutung ist.

Die Figuren sind eher skizziert als ausgearbeitet: Der rätselhafte Nemo überstrahlt alle mit seiner exzentrischen, an Narzissmus grenzenden Art. Die anderen Figuren verkommen neben ihm zu bloßen Statisten – und das, obwohl Professor Aronnax die Geschichte aus seiner Sicht erzählt. Jules Verne deutet etwa an, dass der freiheitsliebende Seemann Ned Land mit dem Eingesperrtsein nicht gut zurechtkommt und fast suizidal zu werden droht. Weitere Worte hierzu: keine.

Der Harpunier Ned Land ist auch der Einzige, dem die Aussicht auf lebenslange Gefangenschaft nahezugehen scheint. Der Professor und sein Assistent Conseil wirken eher phlegmatisch oder desinteressiert und können sich durch ihre Forschungen gut ablenken. Umso unverständlicher sind für den Leser dann die Passagen, in denen der Professor nach kapitellanger Sorglosigkeit plötzlich wutentbrannt in die Kabine Nemos stürmt, um sich über seine Gefangenschaft zu beschweren.

Kapitän Nemo: Ein großes Geheimnis und kaum Aufklärung

Kapitän Nemos Geheimnis wird letztendlich nicht gelüftet. Der Leser erfährt nicht, woher Nemos Hass auf die Menschheit kommt und welches Ereignis der Auslöser dafür war, dass er ruhelos die Meere kreuzt. Der Leser erfährt nicht einmal, was Nemo eigentlich will. Der Kapitän häuft Wissen an, das er vor seinem Tod weitergeben will oder auch nicht. Er hilft Menschen, die er als Unterdrückte wahrnimmt, ohne hierfür Kriterien aufzustellen. Seine Mannschaft lebt ebenso weltabgewandt; was für Männer es sind, erfährt der Leser nicht. Insgesamt ein eher unbefriedigendes Leseerlebnis.

Politische Implikationen der ursprünglichen Fassung

So zurückgelassen, wollte ich natürlich wissen, was es mit Nemo jetzt auf sich hat. Im englischen Wikipedia-Artikel zum Werk findet sich die Erklärung. Jules Verne hatte das Werk ursprünglich wesentlich politischer angelegt: Bei Nemo sollte es sich um einen polnischen Adligen handeln, dessen gesamte Familie beim Januaraufstand 1863/1864 gegen die russische Besatzung massakriert wurde. Vernes Verleger Pierre-Jules Hetzel soll aber darauf bestanden haben, diese Passagen umzuschreiben. Das russische Kaiserreich war zu jener Zeit vermeintlicher Verbündeter Frankreichs und Hetzel befürchtete politische Implikationen und niedrigere Verkaufszahlen durch Nemos Feindbild Russland.

Einen kleinen Hinweis auf diese ursprüngliche Version findet sich noch im heutigen Werk: In Nemos Kabine hängen Bilder verschiedener Freiheitskämpfer/Nationalhelden. Darunter auch der (mir bis dahin unbekannte) Tadeusz Kościuszko. Er führte den polnischen Aufstand gegen Russland und Preußen im Jahr 1794 an.

Im Werk „Die geheimnisvolle Insel“ erfährt der Leser dann wohl mehr über Käpt’n Nemo. Die Informationen dort passen aber nicht mehr zu denen der Ursprungsversionen von „20.000 Meilen unter dem Meer“.

Fazit

„20.000 Meilen unter dem Meer“ ist absolut prägend für sein Genre und sprudelt vor fantastischen Ideen schier über. Aus heutiger Sicht erscheint Jules Vernes Erzählstil zwar stellenweise ungeschickt und die Geschichte lässt den Leser unbefriedigt zurück, weil sie ihr größtes Geheimnis mit ins nasse Grab nimmt. Aber mit den verfügbaren Hintergrundinformationen über das Werk lässt sich zumindest letzteres gut in den Griff bekommen. Daher eine Empfehlung für alle Leser, die sich für fantastische Geschichten begeistern können.


Jules Verne, 20.000 Meilen unter dem Meer, OT: Vingt mille lieues sous les mers, 1869-1890, verschiedene Ausgaben.

Alle Artikel zur Leserunde:

30.05.20 Ankündigung bei Miss Booleana

13.06.20 Zwischenfazit bei Miss Booleana

18.07.20 Fazit hier im Blog
20.07.20 Fazit zum zweiten Band bei Miss Booleana

4 Gedanken zu „[Leserunde] Jules Verne: 20.000 Meilen unter dem Meer (1869–1870)

  1. Ah, das ist mal ein schöner Zufall 😉 Ich habe erst gestern meine Besprechung vom zweiten Band abgetippt, die morgen online gehen soll. Aber mein Fazit ist ähnlich wie deins. Für mich war es letzten Endes kein schlechtes Leseerlebnis, auf jeden Fall ein interessantes, aber es wird nicht eins meiner Lieblingsbücher. Und was die langen Aufzählungen der Meeresbewohner angeht, war ich dann doch zunehmend genervter davon, während ich anfangs dachte „oh wie schön, so bunt, kann mir das so gut vorstellen“. Weil eben wie du auch sagst soviele „große Themen“ ausgespart wurden und unkommentiert blieben.
    Hetzel hatte scheint sehr großen Einfluss auf den Ruf und die Werke Vernes. In der Doku, die ich bei Twitter neulich gepostet habe, wird erwähnt, dass er Jules Verne meist dazu überredete die Geschichten umzuschreiben und weniger gesellschaftskritisch zu machen. V.A. die letzten von Jules Verne, die nach Hetzels Tod erschienen, sind wohl recht heftig und deprimierend. Das hat mich doch ziemlich überrascht.

    1. Ja, so langsam wurde es bei mir auch Zeit für die Besprechung. 😀 Ich fand’s wie immer schön, mit euch zusammen zu lesen. Aber ich glaube, Jules Verne eignet sich nur bedingt für (erwachsene) Leserunden. Es gibt wenig Aufhänger für Diskussionen, wenig, das noch Tagen interpretiert werden kann/müsste. Nichtsdestotrotz schöne Abenteuergeschichten und „In 80 Tagen um die Erde“ steht demnächst auch noch bei mir an.

      Ich habs leider noch nicht geschafft, die Doku zu schauen. Dafür habe ich ein Konvolut von Jules-Verne-Büchern im örtlichen Bücherschrank entdeckt, die ich guten Gewissens gegen meine mitgebrachten Bücher ausgetauscht habe. Deshalb bin ich jetzt stolze Eigentümerin der „Eis-Sphinx“ und anderer weniger bekannter Werke. Aber ich brauche noch ein wenig Zeit bis zum nächsten Werk. 😊

      Sehr interessant, was zu du zu den Büchern, die nach Hetzels Tod erschienen, schreibst! Ich werde mal schauen, ob das auf eine meiner Neuanschaffungen zutrifft. Ich fand’s gar nicht schlimm – im Gegenteil, eher herrlich menschlich – mal eine düstere Sichtweise wie die von Ned Land dabeizuhaben. Nahm der Situation ein klein wenig vom ungerechtfertigten Gute-Laune-Reise-Spaß.

  2. Hallo Jana!
    Das Buch möchte ich auch noch lesen, nachdem ich ja von In 80 Tagen um die Welt von Verne so begeistert war. Obwohl deine Rezension an einigen Stellen nicht ganz so begeistert klingt oder anders gesagt, für mich wäre das wohl sehr frustrierend, wenn man so unwissend zurück gelassen wird. Aber trotzdem werde ich es lesen.
    Ich finde es gut, dass du in deiner Rezension auch etwas dazu aufklärst warum einige Geheimnisse nicht erläutert werden. 🙂
    Liebe Grüße
    Diana

    1. Hallo Diana,

      wie schön, dann tauschen wir einfach die Lektüre: „In 80 Tagen“ ist mein nächstes Buch von Jules Verne. 😊 Ich hoffe, die Hintergrundinfos lassen dich bzgl. Nemo weniger frustriert beim Lesen zurück als mich. Wäre „20.000 Meilen“ als Reihe angelegt gewesen, hätte ich mir die bis zum Schluss andauernde Geheimniskrämerei um den Käptn ja gefallen lassen, aber bei einem Einzelband habe ich am Ende schon Aufklärung erwartet.
      Ganz viel Spaß beim Lesen; ich bin gespannt auf deinen Eindruck!

      Viele Grüße
      Jana

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