Megan Hunter: Die Harpyie (2021)

Die HarpyieEine Vorstadtmutter, die das Fremdgehen ihres Mannes mit körperlichen Schmerzen bestraft. In „Die Harpyie“ lebt eine Frau ihre Gewaltfantasien aus.

Zum Inhalt

Als Lucy erfährt, dass ihr Mann Jake sie betrügt, fällt ihr Vorzeigeleben als Vollzeitmutter in einer englischen Vorstadt in sich zusammen. Sie will die Beziehung durch eine ungewöhnliche Abmachung retten: Dreimal darf sie Jake für dessen Affäre bestrafen. Wie und wann sie zuschlägt, weiß er nicht. Doch nach und nach gerät das Spiel außer Kontrolle und Lucy entdeckt Seiten an sich, die jahrelang im Verborgenen geschlummert haben.

Mein Eindruck

Nach einigen Vorankündigungen und Spekulationen in meiner Internet-Buch-Bubble war ich sehr gespannt auf diesen Roman. Um es vorweg zu nehmen: Im Großen und Ganzen wurde ich nicht enttäuscht. Die Geschichte entfaltet durch die langsame und drastische Verwandlung der Protagonistin eine ungeheure Sogwirkung.

Ein feministischer Roman?

Ist „Die Harpyie“ ein feministischer Roman? Diese Frage finde ich such nach dem Lesen noch schwer zu beantworten. Die Hauptfigur macht eine Verwandlung durch, indem sie die dünne zivilisatorische Decke ihres Vorstadtlebens abstreift und ihre Gewaltfantasien auslebt. Ist das ein Akt der Selbstermächtigung oder verliert sie schlicht den Verstand? Dieser Balanceakt zwischen dem Ausleben der eigenen gewaltvollen Persönlichkeitsanteile und dem Durchbrechen der gesellschaftlichen Norm macht die Spannung dieses Romans aus. Als Leser fragt man sich, wie die Hauptfigur in einer nicht den Romanregeln folgenden Welt reagieren würde. Gesellschaftlich akzeptiert wäre es wohl gewesen, ihren Mann zu verlassen oder – still leidend – seine Affäre zu dulden. Dass die Protagonistin sich hier über diese beiden Varianten hinwegsetzt und eine dritte – gesellschaftlich nicht akzeptierte – Möglichkeit der Bestrafung wählt, ist ein interessantes Gedankenspiel.

„Die meisten von uns pausierten beruflich immer noch oder waren in den Dauerzustand eines schlecht bezahlten Teilzeitjobs hineingerutscht. Wir waren Jahre von der Reihe aufeinanderfolgender Scheidungen entfernt, die mit dem Teenageralter unserer Kinder einsetzen würde, wenn deren Aufbegehren uns auf körperliche, nicht zu leugnende Art und Weise an Welten erinnern würde, in denen etwas passierte.“

S. 115

Ein fast perfekter Roman

„Fast perfekt“ wird „Die Harpyie“ in der Verlagswerbung genannt. Beim Lesen dieses Lobes habe ich mir zunächst nichts gedacht und war dann umso überraschter, die Stelle, den einen Satz, an dem die Autorin den perfekten Pfad ihrer Handlung verlässt und ihre Geschichte überfrachtet, genau ausmachen zu können.
Abgesehen davon ist Megan Hunters Roman handwerklich sehr gut; die Handlung ist gut durchkomponiert und nicht allzu glatt, wie ich es leider ein ums andere Mal bei Romanen aus den US-amerikanischen „Creative Writing“-Schmieden feststellen musste. „Die Harpyie“ schafft es, das Legendenhafte der mythologischen Wesen in die Jetztzeit zu transportieren und die archaische Gewalt, die auch Frauen innewohnt, greifbar zu machen.

„Etwas tun – irgendwas –, um dieses Gefühl loszuwerden; der ganze Körper war voll Galle, nein, mehr noch, so viel Gallensaft, dass dafür in einem einzelnen Menschen, unter einer einzigen Haut kaum genug Platz war. Die Menge schien grenzenlos, als könne sie aus mir herausschwappen, das Haus überfluten, unsere Möbel fortschwemmen, die ganze Welt bedecken.“

S. 125

Fazit

„Die Harpyie“ von Megan Hunter ist ein handwerklich gelungener Roman darüber, wie dünn die zivilisatorische Decke, die uns umhüllt, letztendlich ist. Verbunden mit den Fragen von Mutterschaft und Selbstaufgabe ist die Geschichte von der gewaltvollen Vogelfrau gesellschaftskritisch, dabei auch spannend und entwickelt eine enorme Sogwirkung. Gegen Ende gleitet die Handlung leider ins Unglaubwürdige ab und die Theatralik nimmt für meinen Geschmack etwas Überhand. Nichtsdestotrotz eine deutliche Leseempfehlung.


Megan Hunter, Die Harpyie, aus dem Englischen von Ebba D. Drolshagen, C.H. Beck 2021, 229 S., 22€.

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7 Gedanken zu „Megan Hunter: Die Harpyie (2021)

  1. Hallo Jana!
    Das Buch ist irgendwie total an mir vorbeigegangen, aber es klingt doch irgendwie interessant. Deine Rezension hat mich auf jeden Fall neugierig gemacht und ich würde es vielleicht nicht direkt kaufen, aber ich schaue mal in der Bibliothek nach ob ich es nicht dort ausleihen kann. Danke für deine Rezension, bin doch gespannt auf das Buch.
    Liebe Grüße
    Diana

    1. Hallo Diana, schön, dass ich dich auf dieses Buch aufmerksam machen konnte! Beim Lesen hat es eine unheimliche Sogwirkung entfaltet (für mich etwas, das auf jeden Fall ein gutes Buch ausmacht), im Nachhinein sind mir einige Dinge aufgefallen, die mir beim ersten Lesen nicht sofort ins Auge gesprungen sind und mich beim Nachdenken doch etwas störten. Nichtsdestotrotz konnte mich das Buch für einige Stunden fesseln und ich bin gespannt, was du darüber denkst, wenn es dir mal in die Hände fällt. Viele Grüße, Jana

  2. Hallo Jana,

    danke für deine Rezension und für deine Meinung. Das klingt alles sehr interessant. Ohne dich wäre ich wahrscheinlich gar nicht auf das Werk gekommen. Lieben Dank dafür.

    1. Das freut mich! Ich habe auf deiner Seite gesehen, dass du viele Krimis besprichst. Die Harpyie ist zwar nicht direkt ein Krimi, Verbrechen und Täter/Täterinnen gibt es aber trotzdem.

  3. Harpyien

    Harpyien lassen sich unter aktuellen und mythologischen Gesichtspunkten betrachten, es handelt sich in beiden Fällen um „Reißer“ – also Gewalt passt ganz gut zum Titel Harpyie.

    Greifvögel

    Harpyien sind die physische stärksten Greifvögel der Welt und haben ihre Heimat in den tropischen Wäldern Mittel- und Südamerikas. Benannt wurden diese Greifvögel nach den Harpyien aus der griechischen Mythologie. Harpyien jagen Faultiere und Affen. Mit den mythologischen Harpyien auf Kreta ist nicht zu spaßen, dabei handelt es sich nämlich um dämonische Killer ->

    https://www.mythologie-antike.com/t10-harpyien-damonen-auf-kreta

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