Eine komplizierte Vater-Tochter-Beziehung, die sich an brandaktuellen Fragen von Richtung und Falsch aufreibt: eines meiner Highlights im Jahr 2021.
Inhalt
Saskia hat sich in ihrem Bilderbuchleben eingerichtet: Der Mann erfolgreicher Anwalt und Alleinverdiener, die zwei Kinder mehr oder minder wohlerzogen, sie selbst pausiert trotz ihrer hervorragenden Examina als Richterin um sich voll der erfolgreichen kleinen Familienunternehmen mit begehrtem Standort in einer Hamburger Vorstadtsiedlung zu kümmern. Auf die chaotische Künstlerfamilie in der nebenan blickt sie leicht abschätzig herab und als sich eine Bürgerinitiative gegen den Windradausbau in der Nachbarschaft formiert, ist sie als redegewandte Juristin vorne mit dabei.
Auch ultrakonservative Kreise, die ihr extremistisches Gedankengut hinter einer Fassade geschniegelter Anzugmenschen und illustrer Abendgesellschaften zu verstecken wissen, engagieren sich gegen das Windrad und finden in Saskia eine Verbündete. Diese Verquickung können weder ihr Ehemann, noch ihre freiheitsliebende Schwester und schon gar nicht Hans, ihr alternder Vater und überzeugter Achtundsechziger verstehen. Fast zerbricht die Familie an einem „Das wird man doch noch sagen dürfen!“.
Mein Eindruck
Konservative Juristin, die ihr Vorstadtbilderbuchleben lebt und ein Vater, der von Zeit zu Zeit immer wieder in dieses Leben hineinplatzt und seine seit Jahrzehnten gefestigte Linksintellektualität herausposaunt: Das Setting von Nicola Kabels „Kleine Freiheit“ bot die große Gefahr, sich in Plattitüden und schon zig-fach erzählten, stereotypenbeladenen Geschichten zu verlieren.
Neuer Biedermeier
Dieser Gefahr begegnet die Autorin souverän. Sie verwebt die politischen Gegensätze, die hier im Mittelpunkte der Geschichte stehen, mit der Emanzipationsgeschichte einer erwachsenen Frau, die sich durch allumfassende Angepasstheit und eine große Prise Perfektionismus von den Nachklängen einer unsteten Kindheit in einer Kommune befreien will. Dabei arbeitet sich ihre Protagonistin immer wieder an ihrem Vater Hans ab. Ihm gleicht sie in Intellekt und juristischer Bildung, versucht aber, in ihrer sonstigen Lebensführung das genaue Gegenteil zu sein. In einer stabilen monogamen Ehe strebt sie nach Stabilität und unterdrückt gekonnt jede Regung, die diese mühsam aufgebaute heile Welt gefährden könnte – ein neuer Biedermeier. Dass sie dafür meint, alle beruflichen Ambitionen zugunsten ihrer Kinder zurückstellen zu müssen – geschenkt.
Keine Alternative
Nicola Kabel macht es dem Leser dabei nicht zu einfach. Richtung und Falsch zerfasern an ihren Rändern und die Emotionalität einer konfliktbeladenen Vergangenheit verschieben sachliche Diskussionen schnell auf eine andere Ebene. Dabei beleuchtet die Autorin eine Vielzahl von Fragen aus verschiedenen Perspektiven: Darf eine Mutter ihre Kinder verlassen? Was bedeutet dieser Verlust für die Kinder, was für den Vater? Welchen Schaden bringt das Aufwachsen in den unsteten Verhältnissen einer Kommune mit sich? Welchen Gewinn? Welcher Lebenswandel ist gut, richtig und glücksversprechend?
Woran die Autorin keinen Zweifel lässt: Die aalglatten Rechten, die hier auf der Bildfläche erscheinen, bieten zwar einfache Antworten, sind aber gewiss keine Alternative.
Liebenswerte Figuren
Bis auf den adligen rechten Unhold sind die Figuren in Nicola Kabels Roman „Kleine Freiheit“ sehr fein ausgearbeitet. Die Hintergründe ihres Handelns sind nachvollziehbar und lassen es folgerichtig erscheinen. Durch die sorgsam angelegten Beziehungen untereinander, gepaart mit Einblicken in die jeweilige Vergangenheit, entsteht ein Kreis von Figuren mit großem Wiedererkennungswert (Wer Hans am Ende des Romans nicht in sein Herz geschlossen hat, hat vielleicht keins).
Fazit
Die großen Fragen der letzten Jahrzehnte und die brandaktuelle Debatte der Klimapolitik eingebettet in ein dysfunktionales Gefüge liebenswerter Figuren: Nicola Kabels Roman „Kleine Freiheit“ war eines meiner Jahreshighlights 2021.
Nicola Kabel, Kleine Freiheit, C. H. Beck 2021, 271 S., 22€.
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