Antanas Škėma: Das weiße Leintuch (1958/2017)

 

Skema- LeintuchDas weiße Leintuch: Die Sehnsucht nach Litauen vergeht nie. In den geschäftigen Straßen von New York trifft man seine Landsleute; die Literatur – sie lebt im Exil fort. Fernab der sowjetischen Herrschaft schreibt manch einer mit litauischem Nationalpathos, ein anderer pflegt durch zahlreiche Anspielungen Geschichte und Kultur des Landes. Zu letzteren gehört der bereits 1961 verstorbene Dichter Antanas Škėma. Im US-amerikanischen Exil verfasste er mit „Das weiße Leintuch“ sein – zumindest außerhalb Litauens – bekanntestes Werk.

Škėmas Protagonist, der litauische Schriftsteller Antanas Garšva, lebt im New Yorker Exil. Von den Sowjets gefoltert, floh er über Deutschland in die USA, wo er nun als Liftboy arbeitet. Er raucht, trinkt und verliert sich in Affären, von denen er sich mal mehr, mal weniger verspricht. Lebensbedrohlich krank, schiebt er das klärende Gespräch mit dem Arzt vor sich her; gemeinsam mit seiner Geliebten will er leben, dabei schreiben und auch endlich wieder dichten.

Parallelen zum Autor Antanas Škėma

Die Parallelen zum Leben des Autors stechen sofort ins Auge und auch sein Dichtertum merkt man der Erzählweise an: Seitenlange Assoziationsketten, die sich Bildern aus der baltischen, römischen oder griechischen Mythologie bedienen; dann historische und politische Andeutungen, die ohne die hilfreichen Anmerkungen des Verlages gar nicht zu verstehen wären. Orte, Plätze, Zeiten – alles verschwimmt und schon bald fühlt man sich ebenso gehetzt wie der Protagonist des Romans. Das schien auch der Autor gesehen zu haben, denn fast lacht man erleichtert auf, als er eine andere Figur das Werk seines Protagonisten kritisieren lässt: „Du jonglierst nur mit Bildern. Ohne Sinn.“ (S. 203)
Dann lässt Škėma Antanas Garšva etwas Luft holen; in fein formulierten Rückblicken entblättert er nach und nach die litauische Geschichte. Vom Krieg gegen Polen, der Unzugänglichkeit der Hauptstadt Vilnius, der deutschen und sowjetischen Besatzung, dem Widerstand, von Flucht und Vertreibung erzählt Škėma und geht dabei nicht über den Horizont seines Protagonisten hinaus. Diese Rückblicke sind viel lesbarer, verständlicher. Sind mehr Prosa als Lyrik.

Ein Klassiker der litauischen Literatur

Es heißt, Das weiße Leintuch habe auch heute noch großen Einfluss auf die litauische Literatur. Das ist ohne Weiteres vorstellbar, denn hier wird thematisch so viel angerissen; eine Quelle, aus der jüngere Autoren jahrzehntelang schöpfen können. Dazu legt Antanas Škėma hier auf mehr als 250 Seiten seinen facettenreichen Stil nieder. Da lässt sich abschauen, kopieren, vielleicht auch kritisieren und ausbauen. Und für den Leser, der mit hilfreichen Anmerkungen und Biografien im Anhang erstmals in die litauische Literatur eintaucht, eröffnet sich eine ganz neue Welt, die geprägt ist von Ost und West, so europäisch und dabei doch so fremd.

Antanas Škėma, Das weiße Leintuch (OT: Balta drobulė, 1958, aus dem Litauischen von Claudia Sinnig), Guggolz 2017, 255 S., 21€, ISBN 978-3-945370-10-0.

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11 Gedanken zu „Antanas Škėma: Das weiße Leintuch (1958/2017)

  1. Schön, deine Rezension! Ich feile noch an meiner …zumal ich mich jetzt auch noch in die Tiefen litauischer Lyrik begeben habe (kommt auch noch ein kleiner Beitrag auf meinem Blog) … Und ich habe das Glück, dass es nächste Woche hier im Berliner Literaturhaus einen Abend mit Tomas Venclova und der Übersetzerin zum „weissen Leintuch“ gibt. Ich bin sehr gespannt.
    Viele Grüße!

    1. Danke! Ich bin gespannt auf deinen Artikel zur litauischen Lyrik. Ich habe mich zuvor noch nie mit diesem Thema beschäftigt und war erstaunt, was für ein weites Feld die litauische (Exil-)Literatur ist. Viel Spaß bei der Veranstaltung im Literaturhaus! Claudia Sinnig ist laut Verlag ja schon sehr lange in Litauen aktiv, sie kann bestimmt viel zur Literaturszene dort erzählen. Viele Grüße zurück!

    1. Klasse, ich habe deine Besprechung gerade gelesen. Dir scheint das Leintuch auch gefallen zu haben!; mit der Sprache hatte ich persönlich auf den ersten Seiten zu kämpfen; ganz flüchtig kam mir der Gedanke an Koeppens „Tauben im Gras“, das ich seinerzeit nicht gern gelesen habe. Der Gedanke verging aber, denn Škėma schreibt meiner Meinung nach vielseitiger, abwechslungsreicher. Eine schöne Entdeckung.

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