Sprache und Sein der Hamburger Journalistin und Netzaktivistin Kübra Gümüşay ist eines dieser Bücher, auf die ich hundertmal im Internet gestoßen bin, bevor ich es mir endlich selbst vorgenommen habe.
Zusammen mit „Unsichtbare Frauen. Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert“ von Caroline Criado-Perez, „Bad Feminist“ von Roxane Gay und „Die Wut, die bleibt“ von Mareike Fallwickl geistert „Sprache und Sein“ von Kübra Gümüşay seit seinem Erscheinen im Jahr 2020 durch meine Internet-Bubble. Umso mehr freue ich mich, dass Steffi vom Blog MissBooleana und ich spontan einen Gedankenaustausch auf Twitter unter #DarüberSprechenUndSein auf die Beine stellen konnten.
Inhalt
Sprache und Sein beleuchtet verschiedene Aspekte der Wirkung von Sprache – hauptsächlich geht es hier um die deutsche Sprache – auf die Wahrnehmung und das daraus resultierende Verhalten von Menschen. Das klingt erst einmal sehr abstrakt, aber Gümüşay bricht das Phänomen in verständlicher Weise herunter. So beleuchtet sie Kommunikationsmechanismen im Internet (Hatespeech und Algorithmen, die meinungsverzerrend wirken), TV-Talkshowformate, Sprechverbote im öffentlichen Raum und vorherrschende Bezeichnungen und Bedeutungszuschreibungen für verschiedene Gruppen von Menschen, etwa solche, die Kopftuch tragen, religiös sind, People of Color, Schwarze Menschen und viele mehr.
Meinung
Das Buch ordnet sich in die seit einiger Zeit stattfindende hitzige Diskussion um den sensiblen Umgang mit Sprache ein. „Warum darf man jetzt nicht mehr xy sagen?“ ist eine Frage, die bestimmt jede/r schon einmal gehört hat, wenn er/sie versucht, sich sprachsensibel auszudrücken. Diesen Punkt spricht auch Kübra Gümüşay auch an und legt dar, wie bewusstes Sprechen Respekt vor verschiedenen Menschengruppen, ja Menschlichkeit überhaupt ausdrückt. Warum anderen mit Sprache Gewalt antun? Nur, weil man es aus seiner eigenen privilegierten Position heraus kann? Anhand persönlicher Eindrücke und Berichte, etwa von geflüchteten Frauen, beschreibt Kübra Gümüşay, welche Auswirkungen unbedachte oder bewusst aggressive Sprache auf das Wohlergehen und das Selbstbewusstsein der benannten Menschen hat.
Rechte Akteure prägen den öffentlichen Diskurs
Darüber hinaus stellt Gümüşay die Kommunikationsmechanismen rechter Akteure in der öffentlichen Kommunikation dar und beschreibt anhand verschiedener bekannter Beispiele („Ist Jérôme Boateng ein guter Nachbar?“ = „Können Schwarze Menschen überhaupt gute Nachbarn sein?“), wie diese Akteure mit Kalkül die öffentliche Meinung vor sich hertreiben und den Diskurs prägen. So werden wichtige gesellschaftliche Probleme schlicht nicht mehr diskutiert, weil sich mediale Formate nur noch mit den von rechts vorgegebenen Themen Geflüchtete, Asylpolitik und – neuerdings – „Klimaterroristen“ drehen. Die mitgelieferten Zahlen, etwa zu der geringen (und von rechts diktierten) Bandbreite, mit denen sich Talkshows in den öffentlich-rechtlichen Programmen auseinandersetzen, sind ernüchternd.
Was ich im Kapitel "Die intellektuelle Putzfrau" aber sehr bezeichnend finde ist, das Rassismus als solcher tatsächlich nicht benannt wird, um Täter nicht zu defamieren. Aber als Ursache für ein Verbrechen die Kopfbedeckung des Opfers zu nennen ist shady. #DarüberSprechenUndSein
— MissBooleana (@MissBooleana) January 15, 2023
Zu oft gehört, zu oft gelesen
Kübra Gümüşay liefert viele aktuelle Beispiele, um ihre Argumentation zur Auswirkung von Sprache auf die gesellschaftliche Wahrnehmung von Phänomenen zu belegen. Leider empfand ich persönlich viele dieser Beispiele fast schon als abgedroschen.
Muss sagen, dass ich gerade diesen Teil etwas schwächer als das Nachkommende fand. Hatte für mich etwas von "schon zu oft (u.a. im Netz) gesehen"; ich dachte sogar kurz, dass ich das Buch sogar schon gelesen hätte, weil mir die Bsp. so bekannt vorkamen. #DarüberSprechenUndSein
— Jana (@Wissenstagebuch) January 5, 2023
Obwohl die Autorin (meines Erachtens zu recht) darauf hinweist, dass die Mitglieder marginalisierter gesellschaftlicher Gruppen nicht dafür zuständig seien, Lösungsansätze zu liefern, fehlte mir in den einzelnen Kapiteln beim Lesen genau das: Der Hauch eines Lösungsansatzes. Das Mantra-artige Wiederholen des Leitsatzes „Die deutsche Sprache muss sich ändern, um inklusiver zu sein“, ließ bei mir als Leserin am Ende jedes Kapitels die immer drängendere Frage „Ja wie denn?!“ aufkommen. Ganz am Ende geht die Autorin dann endlich auf diese Frage ein. Nach meinem Verständnis lautet die Lösung kurz zusammengefasst: Es soll immer mit und über das Individuum gesprochen werden; eine sprachliche Beschreibung muss immer individuell und nicht anhand von Stereotypen auf eine Gruppe bezogen erfolgen.
werden? Wie soll man/die Medienöffentlichkeit Menschen begegnen, die nicht dazu gemacht werden, sondern für sich in Anspruch nehmen, "Sprachrohr" einer bestimmten Bewegung zu sein?
— Jana (@Wissenstagebuch) January 10, 2023
Ernstgemeinter Lösungsvorschlag oder Alibi?
Dieser Lösungsansatz erschien mir nach der Vielzahl der benannten Probleme reichlich vereinfachend. Wie sollen Politiker und Vereine, die ihre Politik für bestimmte Gruppen machen, dann ihre Zielgruppen und andere Gruppen benennen? Wie sollen Probleme, die in bestimmten gesellschaftlichen Gruppen stärker verbreitet sind als in anderen, konkret im öffentlichen Diskurs benannt werden können? Spielt neben der Sozialisierung der sprachlich benannten Personen nicht genauso die Sozialisierung der Benennenden eine Rolle? Warum wird diese beim Lösungsansatz völlig ausgeblendet? Durch das Anreißen einer Lösung stellten sich mir am Ende noch mehr Fragen als zuvor. Dadurch, dass die Autorin selbst einschränkende Hinweise gibt, warum diese Lösung nicht ausreichend sein kann, liest sie sich am Ende wie ein Alibi-Vorschlag, nur gemacht, um die Lesenden nicht mit einem völlig unbefriedigten Gefühl zurückzulassen.
#DarüberSprechenUndSein
Kap. Ein neues Sprechen: "Selbstverständlich spielen die jeweils spezifischen Umstände eine elementare Rolle." Dass diese so wichtige Einschränkung so beiläufig hingeworfen wird, macht mich fast sauer. Die spezifischen Umstände einer Person sind doch so…— Jana (@Wissenstagebuch) January 10, 2023
Das politische Essay
Die Lektüre ließ mich mit einem gemischten Gefühl zurück. Zum Teil liegt das wohl an dem Format des Werkes: Als politisches Essay wich es, was Intention und Argumentation angeht, deutlich von den Sachbüchern, die ich sonst lesen, wenn ich mehr über ein Thema erfahren will, ab. (Ich glaube, mein letztes politisches Essay war das vor mehr als zehn Jahren veröffentlichte „Empört Euch!“ von Stephane Hessel). Zudem ist der Text so zeitgenössisch, dass viele Beispiele der breiten Leserschaft schon in fünf Jahren nicht mehr bekannt sein dürften. Dadurch, dass ich viele Beispiele durch das Verfolgen der zugehörigen Diskussionen kannte, blieb häufig das beabsichtigte Aha-Erlebnis oder eine vielleicht bei mir als Leserin beabsichtigte Empörung aus und ich empfand die Kapitel teilweise als reines Zusammentragen und Bündelung von sowieso schon bekannten (Internet-)Diskussionen und -phänomenen.
Belesen und authentisch
Als besonders stark empfand ich jene Passagen von „Sprache und Sein“, in denen die Autorin ihre eignen Erfahrungen schildert:
„Schließlich war für mich Smalltalk mit fremden Menschen nichtmuslimischen Glaubens in Deutschland immer gleichbedeutend gewesen mit der Inspektion meiner Herkunft, meines Glaubens, meines Verstandes, meiner Intelligenz, meiner Familie, meiner Psyche, meines Privatlebens. Ich hatte keine Vorstellung davon, was jemanden, der nicht muslimisch war, sonst an mir interessieren könnte. Gewöhnt daran, mich auf eine bestimmte Weise offenbaren zu müssen, wusste ich nicht, was ich über mich sonst erzählen sollte. Wenn ich nun tatsächlich ich sein durfte: Wer war ich eigentlich? Und wofür interessierte ich mich?“
Diese Textstellen heben sich als ungleich authentischer und ihr selbst wichtiger und näher von jenen Passagen , in denen die Autorin lediglich über die Erfahrungen von Bekannten berichtet, etwa, wenn es um barrierefreie Architektur und Räume geht, ab.
Sehr gut gefallen hat mir auch, wie beiläufig Kübra Gümüşay ihre Belesenheit einfließen lässt und mir auf diesem Wege viele Literaturtipps an die Hand gibt. Auch Quellen und vertiefende Hinweise finden sich am Ende des Werkes: eine weitere Fundgrube an Wissen und Beleg dafür, dass die Autorin fundiert ihre Meinung äußert.
Fazit
Sprache und Sein von Kübra Gümüşay ist ein meinungsstarkes Werk, das uns für unsere Sprache und deren Auswirkungen auf unsere Mitmenschen sensibilisiert. Durch seine stark zeitgenössische Prägung und die Auswahl vieler aus dem Internet bekannter Beispiele empfand ich das meiste jedoch als zu vertraut, um einen Aha-Effekt zu erleben. Daher eine Empfehlung für alle, die sich unabhängig von aktuellen Diskussionen in den sozialen Medien für wertschätzende und inklusive Sprache interessieren.
Hier geht’s zu Steffis Beitrag auf dem Blog MissBooleana.
Kübra Gümüşay, Sprache und Sein, Hanser Berlin 2020, 208 Seiten.
Kennt ihr das Werk und verfolgt – auf Twitter oder anderswo – Diskussionen um einen sensibleren Umgang mit Sprache? Habt ihr Empfehlungen für konservative Essays und Werke, die als Gegengewicht eine andere Position als Gümüşay in „Sprache und Sein“ vertreten?
Weitere Meinungen zu „Sprache und Sein“ u. a. bei
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2 Gedanken zu „[Leserunde] Kübra Gümüşay: Sprache und Sein (2020)“