Dörte Hansen: Mittagsstunde (2018)

Wie schon in „Altes Land“ erzählt Dörte Hansen vom vermeintlich beschaulichen Dorfleben damals und heute. Doch an ihren Debütroman mit den liebenswert-schrulligen Figuren reicht „Mittagsstunde“ nicht heran.

Dörte Hansen Mittagsstunde

Worum geht’s?

Ingwer Feddersen arbeitet als Archäologe an der Kieler Universität. Er nutzte die erstbeste Gelegenheit, um dem Dorfleben und seiner schwierigen Familiengeschichte zu entkommen. Seine Lebenssituation in Kiel stellt sich als das beständige Provisorium einer Dreier-WG mit benefits dar. Auf dem sterbenden Dorf sitzen die Großeltern, die ihn aufgezogen haben und deren Kneipe nun irgendwie abgewickelt werden muss. Von der Midlife-Crisis gepeinigt, packt Ingwer seine Koffer und nutzt sein sabbatical, um die alten Großeltern zu pflegen.

Schwierige Protagonisten

Dörte Hansen kocht beim zweiten Roman nach dem Erfolgsrezept des ersten: ein mittelalter orientierungsloser Protagonist und Figuren, die an ihrem Lebensabend auf verpasste Chancen und die Umwälzungen im Dorfleben der letzten Jahrzehnte zurückblicken. Setting ist ein fiktives sturmgepeinigtes Dorf in Norddeutschland. Als Fan von „Altes Land“ las sich alles irgendwie vertraut, doch mit den Figuren wurde ich bis zuletzt nicht so recht warm.

Gerade Ingwer Feddersen war für mich nicht richtig „rund“: Im Zeitpunkt der Romanhandlung wird er als orientierungslos und frustriert gezeichnet; seiner Familiengeschichte traut er nicht, bemüht sich aber auch nicht um Aufklärung. Dazu passte für mich nicht, dass er aus eigenem Antrieb dem dörflichen Leben den Rücken gekehrt und es als Archäologe in Kiel zu einer wohl (unbefristeten) Stelle an der Uni gebracht hat. Dabei ist das doch ein stark umkämpftes Feld. Vielleicht spielt hier auch meine persönliche Präferenz hinein: Die hemdsärmelige anpackende Vera aus dem ersten Roman war mir einfach sympathischer.

Hansens starke Seite

Bei der Geschichte der beiden „Alten“ wird dann aber Dörte Hansens erzählerische Kraft deutlich: Die Heimkehr aus der Kriegsgefangenschaft und des danach schwierigen Ehelebens schildert sie auf außerordentlich berührende Weise. Das empfand ich schon bei der Geschichte um die Vertriebenen in „Altes Land“ so. Hansens Talent liegt darin, die Vergangenheit lebendig werden zu lassen. Ginge es nach mir, könnte sie einen ganzen Roman aus der Sicht ihrer alten Protagonisten schreiben, ohne eine Anbindung ans Heute zu forcieren. So oder so – ich warte auf Dörte Hansens nächsten Roman.

Dörte Hansen, Mittagsstunde, Penguin Verlag 2018.

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Tintenhain

Sätze und Schätze

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2 Gedanken zu „Dörte Hansen: Mittagsstunde (2018)

  1. Vielleicht ist er so frustriert, weil er das Gefühl hat, dass ihm etwas im Leben fehlt und das vielleicht auch damit zu tun hat, dass er seine Kindheit und Jugend im Dorf nicht so richtig aufgearbeitet hat? Nachdem er sich bei der Pflege der Großeltern auch mehr mit dem Leben in Brinkebüll befasst und mit dem Großvater ausgesöhnt hat, fällt es ihm ja auch leichter, Dinge neu anzupacken. In der Jugend den Entschluss zu fassen, wegzuziehen, ist, denke ich, leichter als ein eingefahrenes, aber irgendwie funktionierendes Leben umzukrempeln. Da braucht es meiner Meinung nach mehr Anstoß. Für mich war es daher stimmig.
    Allerdings mochte ich auch lieber den Handlungsstrang in der Vergangenheit, der zeigt, wie sich das Leben im Dorf ändert und warum die Bewohner zu denjenigen wurden, die sie heute sind.
    Danke für die Verlinkung!

    Liebe Grüße
    Mona

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