[Leserunde] Lew Tolstoi – Anna Karenina (1877/1878)

In den letzten Wochen war es sehr ruhig hier auf dem Blog. Das liegt nicht nur am Umzug, der Eingewöhnung in Dresden und dem neuen Job, sondern auch an Tolstoi! Ganze sechs Wochen lang hat mich Anna Karenina begleitet. Andere Bücher passten in der Zeit leider nicht dazwischen. Aber es hat sich gelohnt – das Lesen war ein Erlebnis, besonders wegen der vielen Beobachtungen, über die wir in der Leserunde auf Twitter unter dem Hashtag #LeoundAnna austauschen konnten.

Gern hätte ich wie bei der Dostojewskij-Leserunde hin und wieder ein inhaltliches Zwischenfazit abgegeben, aber anders als bei „Verbrechen und Strafe“, in dem der Ausgang der Geschichte vorausgeschickt wird, spannt Tolstoi seinen Leser bis zuletzt auf die Folter: Was geschieht mit Anna? Um die vielen Wendungen der Geschichte nicht vorwegzunehmen, gibt es also nur ein Schlussfazit – garantiert spoilerfrei.

[Leserunde] Lew Tolstoi – Anna Karenina (1877/1878)

Worum geht’s?

Anna Karenina ist unglücklich mit dem hohen Staatsbeamten Alexej verheiratet. Zwar liebt sie die gesellschaftliche Stellung, die mit ihrer Ehe einhergeht und auch den gemeinsamen Sohn. Aber als der lebenslustige Junggeselle Wronski daherkommt, gibt es für die beiden kein Halten mehr und sie leben ihre Liaison bald offen aus. Ganz anders die junge Kitty, die ursprünglich in den feschen Wronski verliebt war und sich mehr und mehr unschuldig dem soliden Gutsbesitzer Lewin annähert. Ihre Schwester Dolly dagegen hat schon alle Hände voll mit ihrer Kinderschar zu tun, während Dollys Gatte Oblonski das Liebesglück aller Beteiligten zu seiner Mission erklärt hat.

Blickt man da überhaupt noch durch?

Ja! Zwar lag meiner Ausgabe ein Lesezeichen mit einer kleinen Übersicht der Hauptfiguren bei, aber Tolstoi zeichnet jede von ihnen so einzigartig, dass man sie trotz der zugegebenermaßen langen russischen Namen sofort wiedererkennt. Auch die Länge der Geschichte trägt dazu bei, dass keine Verwirrung aufkommt: In den gut 1200 Seiten tauchen die Figuren nach und nach in gut verdaulichen Abständen auf. Tolstoi erzählt mehrere lose verwobene Geschichten parallel und widmet sich dabei einer von ihnen für mehrere Kapitel, sodass man nie das Gefühl hat, von einem Schauplatz zum nächsten gezerrt zu werden und alle Figuren gleichermaßen gut kennenlernt.

Warum lohnt’s sich?

Weil Tolstoi ein Panorama der russischen Oberschicht in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erschafft, ohne dabei zu vergessen, dass er auch eine Geschichte erzählen will. Panslawismus, Aberglaube, Bauernbefreiung, Kommunismus, Machtstrukturen, Frauenbildung, übersteigerte Religiosität, Landwirtschaft und Pferdezucht sind nur einige der Themen, die Tolstoi anspricht – und alle ordnet er glaubhaft seinen Figuren zu, sodass nichts bemüht daherkommt. Man lernt unglaublich viel Neues und bekommt bei Interesse eine Vielzahl Literaturtipps aus den Bereichen Geschichte, Wirtschaft und Philosophie.

Zudem – und das ist bei 1200 Seiten nicht unwichtig – ist das Buch schlichtweg unterhaltsam. Tolstoi schreibt mal einfühlsam, mal ernst oder spöttisch, reißt Beamtenwitze und flechtet verschiedene Handlungsstränge gekonnt ineinander. Es gibt Klatsch und Tratsch aus der russischen Oberschicht, es wird geliebt und gehasst, getrauert und intrigiert. Seine Figuren sind menschlich und glaubwürdig. Tolstoi war einfach ein überragend guter Autor.

Was stört?

Natürlich hat der Roman seine Längen. Er ist in acht Teile mit jeweils mehreren Dutzend Kapiteln gegliedert und bei der Vielzahl an Themen ist nicht jedes gleichermaßen interessant. So sehr ich Lewins Geschichte um seinen Gutshof gemocht habe, so lang wurden mir doch die Beschreibungen darüber, wie das Gras richtig zu mähen und die Ernte einzubringen sei. Außerdem hatte ich den Eindruck, dass der Roman in der zweiten Hälfte etwas an Fahrt verliert, bevor er sich noch einmal fürs Finale intensiv seiner Namensgeberin Anna Karenina zuwendet.

Worüber ich gestaunt habe

Darüber, wie modern sich Tolstoi liest. Das mag zum einen an der hervorragend lesbaren Übersetzung von Rosemarie Tietze liegen. Zum anderen aber auch an der Zeitlosigkeit der Themen. Es geht um menschliche Schwächen und gesellschaftliche Zwänge, um Doppelmoral, Vergnügungssucht und Armut und um die ganz großen Gefühle.

Die Hauptfiguren sind enorm vielschichtig aufgebaut, jede macht im Laufe des Romans ihre ganz eigene Entwicklung durch. Außerordentlich bemerkenswert finde ich, dass es Tolstoi gelingt, seine männlichen und weiblichen Figuren gleichermaßen glaubwürdig erscheinen zu lassen. Themen wie Schwangerschaft, Probleme einer frühen Eheschließung und sogar der Vorgang der Geburt selbst werden nicht ausgespart. Vollends begeistert war ich, als er seine kinderreiche Figur Dolly darüber nachdenken lässt, wie sehr ihre Kinder Bereicherung und Unfreiheit zugleich darstellen. Eine so differenzierte Auseinandersetzung mit vornehmlich weiblich besetzten Positionen hatte ich nicht erwartet.

Meine Befürchtung, dass Anna Karenina ebenso abgrundtief melancholisch geschrieben sein würde wie Dostojewskijs „Verbrechen und Strafe“ hat sich glücklicherweise nicht bewahrheitet. Tolstois Figuren haben ihre traurigen und nachdenklichen Phasen, aber diese allein machen nicht den ganzen Roman aus. 1200 Seiten pures Elend wären schwer auszuhalten gewesen.

Welche Ausgabe kann ich empfehlen?

Mir gefällt die Übersetzung von Rosemarie Tietze aus dem Hanser-Verlag. Sie lässt sich ganz ausgezeichnet lesen, wirkt nie altbacken und ist außerdem mit einem umfangreichen Anhang versehen. Ich habe mir ein gebrauchtes Exemplar gegönnt und mich über das handliche Format gefreut – so wurden die Arme trotz des Umfangs des Romans nicht allzu lang.

Fazit

Anna Karenina ist modern, unterhaltsam und lehrreich. 1200 Seiten benötigten zwar ein gutes Stück Lesezeit, aber ich wurde auf dem Weg von unterschiedlichen und sehr vielschichtigen Figuren begleitet, die mir ans Herz gewachsen sind. Dieser Roman ist ein Kunstwerk.

Wissenstipp: Russland im 19. Jahrhundert, russische Geschichte, Gesellschaft und Kultur


Weitere Beiträge zur Leserunde:

18.05.19 – Zwischenfazit von MissBooleana („Kitwin“ für das Paar Kitty und Lewin ist knorke!)
07.06.19 – Fazit von NetteBücherKiste
23.06.19 – Fazit von MissBooleana

Und auf Twitter unter #LeoundAnna.

Danke an die Mitstreiter in der Leserunde für ihre Geduld und die spoilerfreien Diskussionen!

5 Gedanken zu „[Leserunde] Lew Tolstoi – Anna Karenina (1877/1878)

  1. Sehr treffende Zusammenfassung! Ich habe mich gefühlt etwas schwer damit getan alle Aspekte des Buches zusammenzufassen, aufzuzählen und ihnen die verdiente Nennung zu verpassen, aber du bringst es auf den Punkt. Für mich war es der erste Tolstoi und gerade, dass er sich in soviele Rollen versetzt und so einfach lesen ließ, hat mich enorm positiv überrascht. Ich spiele sogar gerade mit dem Gedanken mich nächstes Jahr mal an „Krieg und Frieden“ heranzutrauen … und über das „knorke“ musste ich sehr schmunzeln 😉

    1. Bei ,,Krieg und Frieden“ wäre ich – mit genügend Vorlauf – dabei! Hast du nächstes Jahr noch mal Lust auf eine Leserunde? Diesmal habe ich erst spät angefangen und zudem sehr langsam gelesen. Da hatte ich das Gefühl, dass ich der Twitter-Diskussion immer ein bisschen hinterher hinkte und wir alle sehr mit Spoilern aufpassen mussten. Bei ,,Krieg und Frieden“ würde ich mich daher ranhalten. 😉

      Viele Grüße
      Jana

      1. „Tolstoi war einfach ein überragend guter Autor.“ Oh ja! Und ich freue mich noch immer, wie gut euch allen „Anna Karenina“ gefallen hat und dass euch Tolstoi für sich gewonnen hat! 🙂

        Und ja, bitte lest „Krieg und Frieden“ – mein persönlicher Favorit Tolstois. 😀 Eventuell lese ich dann sogar parallel mit – allerdings nicht die allgemein bekannte Version, sondern die Urfassung (was es mit der Urfassung auf sich hat, bringt Wikipedia besser auf den Punkt, als ich das jetzt hier könnte: https://de.wikipedia.org/wiki/Krieg_und_Frieden_(Urfassung) ).

  2. Ich habe das Buch irgendwann abgebrochen. Es waren einfach zu viele Längen (die ganze Landwirtschaft) und ich kam nie in den richtigen Lesefluß. Außerdem haben mich die Wiederholungen einzelner Szenen gestört. Ich glaube, Tolstoi und ich werden keine Freunde mehr.

    1. Ich bin froh, dass ich zuerst Anna Karenina gelesen habe, bevor ich mich an Krieg und Frieden gewagt habe. Krieg und Frieden pausiere ich nach den ersten 1000 Seiten bereits seit einem Jahr – gerade die ellenlagen Abhandlungen über die Situation der Bauern und Verbesserungsmöglichkeiten in der Landwirtschaft (da hat Tolstoi sich wirklich ausgetobt), haben mir die Freude an der Lektüre etwas vermiest. Bei Anna Karenina kam noch so viel „Gossip“ dazu, dass ich das Lesen ganz unterhaltsam fand. Nach Krieg und Frieden bin ich mit Tolstoi aber auch erst einmal „durch“.

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